Pop am Schweizer Radio: Der Letzte löscht das Licht
In den neunziger Jahren wurden die Schweizer Radios nach Zielgruppen formatiert. Nach welchen Kriterien wird heute die Musikauswahl bestimmt?
«Amtlich bewilligter Störsender», so nannte sich DRS 3 nach seiner Gründung. Das war ein guter und leider auch wahrer Werbespruch. Sucht man in der jüngeren Schweizer Geschichte ein Beispiel dafür, wie Widerstand eingemeindet wird oder dass Widerstand oft nur der Überschuss eines technologischen Wandels ist, bietet sich der Umgang mit Popmusik am Radio an. Was hatten die linksalternativen und halb kommerziellen RadiopiratInnen in den siebziger Jahren nicht illegal gegen das starre Monopol der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) angesendet – doch mit dem Fall des Monopols setzte auch die Formatierung der Radiosender ein.
Statt der konzipierten BürgerInnenradios, die sich in einem engen Sendekreis um die Demokratie vor Ort kümmern sollten, entstanden Privatradios, die in ihrer Musikauswahl bald alle zum Verwechseln ähnlich klangen. Der Stellenwert der Popmusik am öffentlichen Radio lässt sich an «Sounds!» messen. Die Sendung wurde bereits 1976 auf dem damaligen zweiten Kanal ins Leben gerufen – mit der Stimme von Radiolegende François «FM» Mürner. 1983 erhielt die Popmusik mit DRS 3 ihren eigenen Kanal. Aufgrund sinkender HörerInnenzahlen wurde der Sender später für gefälligere Musik geöffnet und die «Durchhörbarkeit» zur Maxime erklärt. Spöttisch sangen Züri West vom «Radio zum Glück». 2003 wurde «Sounds!» auf den Digitalkanal Virus verbannt; nach Protesten kehrte die Sendung auf DRS 3 zurück.
Seither ist es still geworden um die Radiodebatte in der Schweiz. Auch wenn die politische Diskussion um die SRG, um es in Radiosprech zu sagen, auf «heavy rotation» dreht, ist von der Musik selten die Rede. Wie wird heute überhaupt die Musikauswahl bei SRF 3 und Virus getroffen im Vergleich mit nicht kommerziellen Radios wie dem Luzerner Jugendsender 3fach, und was macht «Sounds!» heute? Was ist vom Überschuss geblieben?
Positionierung bestimmt
Bis heute wird das Musikprogramm des Schweizer Radios nicht durch einen Algorithmus bestimmt: Wohl gebe es eine Datenbank, und sie trage erst noch den Namen «Musicmaster», führt Michael Schuler, als Leiter der Fachredaktion Musik (Pop/Rock) zuständig für die Auswahl auf den drei Sendern SRF 1, SRF 3 und SRF Virus, aus. Der Musicmaster mache aber nur einen Vorschlag zur Reihenfolge der Songs, der von den MusikredaktorInnen nochmals komplett überarbeitet werde. Welche Songs grundsätzlich ins Programm kommen, würden die MusikredaktorInnen für jeden Sender an einem wöchentlichen Treffen ermitteln.
«Das wichtigste Kriterium bei der Auswahl ist die Positionierung des einzelnen Senders», sagt Schuler. Auf SRF 1 soll die Musik eine Verschnaufpause zwischen den Informationen bieten, auf SRF 3 eine Begleiterin durch den Tag sein. Erst auf SRF Virus soll sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenken. Hört man sich durch die Programme, liegt der Unterschied zwischen SRF 3 und Virus, in Bands ausgedrückt, ungefähr zwischen Mumford & Sons, Christina Aguilera oder Baschi hier und den Libertines, Courtney Barnett oder Tommy Vercetti dort. Erreicht SRF 3 täglich rund 1,3 Millionen HörerInnen, kommt Virus auf ein knappes Zehntel davon.
Die Diskussionen über die Auswahl beschreibt Schuler als rege: Es könne auch einmal einen Stichentscheid geben, oder ein Song werde mehr als einmal diskutiert. Saisonale Stimmungen sollen berücksichtigt, stilistische Ballungen vermieden werden. Im Zweifel gebe man Songs aus der Schweiz den Vorzug. Lachend räumt Schuler ein, dass neue Songs aber letztlich nicht die Positionierung des Senders beeinflussen würden, sondern die Positionierung über die Musik bestimme: «Sie ist klar ein Ausschlusskriterium.»
Neugierde zählt
Moritz Stettler ist seit dem Frühling dieses Jahres beim Luzerner Radio 3fach für das Musikprogramm verantwortlich. Beim Jugendsender sind Personalwechsel nichts Ungewöhnliches: Die ModeratorInnen dürfen nicht älter als 25 Jahre alt sein, Mitglieder der Geschäftsleitung nicht älter als 30. Stettler findet diese Altersguillotine gut: «So bleiben wir up to date, in musikalischer wie in technischer Hinsicht.» 3fach wurde in den letzten Jahren via Stream über Luzern hinaus bekannt. Dies auch dank eines 1.-April-Scherzes: Mit einer Konkursmeldung machte 3fach darauf aufmerksam, wie öde die Schweizer Radiolandschaft ohne nicht-kommerzielle Sender wäre.
Wohl folgt auch Stettler bei seiner Musikauswahl dem Prinzip, das bei Privatradios gilt: Jemand, der im Büro arbeitet, soll durch die Musik nicht abgelenkt, sondern aufgeheitert werden. Der Unterschied liege aber darin, dass man dabei nicht nur auf sichere Werte, sondern bewusst auf Neuigkeiten setze, meint Stettler. Und noch etwas ist ihm wichtig: «Ich spiele Songs mit Texten, die wirklich etwas aussagen.» Auf der Suche nach Entdeckungen liest er sich ständig durch die Musikblogs; sein aktueller Favorit ist die griechische Pop-Folk-Sängerin Monika. Ist ein neuer Hit gefunden, gibt es auch bei 3fach kein Halten mehr: In der sogenannten Tinnitus-Rotation wird er der HörerInnenschaft bis zu zwanzigmal pro Woche um die Ohren geschlagen.
Nachts im Studio
Nach der Engführung auf Formatradios findet also zumindest bei den Spartensendern und nicht kommerziellen Radios eine mal vorsichtigere, mal forschere Auslotung der Möglichkeiten statt. Und was macht derweil «Sounds!»? Von 22 bis 24 Uhr ertönt auf SRF 3 unter der Woche weiterhin innovative Popmusik, aktuell etwa von Destroyer oder Julia Holter. «Bei uns gilt noch immer die Devise ‹Hier entdeckt man neue Musik›», sagt Redaktor und Moderator Matthias Erb. Wohl würden Nerds auf der Suche nach neuer Musik kaum mehr Radio hören, sondern im Internet wühlen. Die Sendung versuche dennoch, die Musikinteressierten zu einer Szene zu verbinden, mit Hinweisen auf Konzerte und Einladungen an Bands ins Studio.
Erb arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren für «Sounds!». Die Kommerzialisierung des Radios sieht er in einem breiteren Kontext: Die widerständige Kraft von Musik werde überall in der Gesellschaft im Konsum aufgelöst: «Independent ist zu einem Lifestyle geworden.» Zwar träumt Erb davon, dass die Musik von «Sounds!» wieder einmal den ganzen Tag über läuft. Vorerst beschäftigt den Radioprofi aber noch eine andere Entwicklung: dass die Sendungen dank Podcasts ihren Livecharakter und damit auch ihre spezifische Stimmung verlieren. «Nachts lösche ich oft als Letzter im Radiostudio das Licht und denke: Wer hört das morgen bei der Arbeit?»
Zur jüngeren Radiogeschichte in der Schweiz lesenswert: «Radio und Fernsehen in der Schweiz. Geschichte der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, 1983–2011», herausgegeben von Theo Mäusli, Andreas Steigmeier und François Vallotton, erschienen im Verlag Hier + Jetzt, 2012.