Gentrifizierung in London: Häuser besetzen gegen die Wohnungskrise
In den letzten Jahrzehnten mussten in London die Sozialwohnungen zunehmend teuren Wohnprojekten weichen. Nun wehren sich AnwohnerInnen gegen die Aufwertung ihrer Wohnquartiere.
Rund um die grauen, tristen Wohnblöcke zieht sich – fröhlich in violetter Farbe gestrichen – die Verteidigungsmauer. Vielleicht soll der knallige Anstrich von den bedrohlichen Metallzacken ablenken, die die obere Kante der Holzwand säumen – als wolle man den Betrachter beschwichtigen: Die Mauer ist gut gemeint.
Weniger freundlich gibt sich der Wachmann hinter dem vergitterten Eingang. Auf die Frage nach dem Zweck des Zauns meint er unwirsch: «Der ist hier wegen dieser verdammten Unruhestifter, der Hausbesetzer.» Ende Januar hatten AktivistInnen mehrere leere Wohnungen der Häuserblocks in der Londoner Gemeinde Southwark in Beschlag genommen, um gegen den Abriss des Aylesbury Estate zu protestieren. Die Antwort der Gemeinde war so drastisch wie kostspielig: Um weitere Besetzungen in den vier Wohnblöcken, die nur einen Teil der Sozialbausiedlung darstellen, zu verhindern, liess sie für 140 000 Pfund einen 700 Meter langen Holzzaun errichten, vordergründig zur Sicherheit der AnwohnerInnen. Siebzehn Wohnungen sind noch immer belegt, und die MieterInnen müssen jetzt ein bewachtes Tor passieren. Die Sicherheitsvorkehrungen und die Schikanen durch das Wachpersonal machten die Besetzung für die AktivistInnen zunehmend mühselig, sodass sie sich Anfang April entschieden, freiwillig auszuziehen.
Heute sind nur noch Überreste von Aktivismus am Gebäude zu sehen. In grossen Lettern steht an der Fassade: «Sozialwohnungen statt Privatprofit». Ein Spruchband einige Stockwerke darüber ist nur noch auf einer Seite befestigt und hängt schlaff herunter, ausser einem Anarchismussymbol ist nichts zu entziffern. Auch das Plakat mit der Aufschrift «Fight for this Estate», das am Zaun klebt, ist zur Hälfte abgerissen.
«Soziale Säuberung»
Die Sozialsiedlung Aylesbury Estate wurde in den siebziger Jahren fertiggestellt und beherbergte einst 7500 Menschen – es war der grösste Gemeindebau Europas. Doch weil die Lokalbehörde in den folgenden Jahrzehnten zu wenig Geld in die Instandhaltung setzte, verlotterten die Gebäude. Lifte gingen kaputt, Wasser sickerte durch die Decken, in den übel riechenden Gängen hingen Kleinkriminelle herum. Anfang des 21. Jahrhunderts war Aylesbury zum Inbegriff einer gescheiterten Sozialbausiedlung geworden.
Trotzdem sprach sich 2001 eine überwältigende Mehrheit der BewohnerInnen dagegen aus, den Gemeindebau abzureissen und durch neue Häuser zu ersetzen – ein Votum, das die Lokalbehörde geflissentlich ignorierte: Vier Jahre später entschied sie, genau dies zu tun. Die 2800 Wohnungen, von denen 2008 noch über achtzig Prozent Council Homes waren, also Sozialwohnungen, sollen in den nächsten zwanzig Jahren durch 4000 «hochwertige» Wohneinheiten ersetzt werden. Das Estate wird der Wohnungsgenossenschaft Notting Hill Housing übertragen, einer sogenannten Housing Association. Diese hat zwar angekündigt, dass die Hälfte der neuen Wohnungen zu erschwinglichen Preisen vermietet werde. AktivistInnen befürchten aber, dass es zu einer «sozialen Säuberung» kommen wird.
«Wir gehen nicht davon aus, dass alle bestehenden Sozialwohnungen ersetzt werden», sagt Tanya Murat von der Kampagne Defend Council Housing, die sich für eine gerechtere Wohnungspolitik einsetzt. Die Genossenschaft sage nicht genau, was sie mit «erschwinglich» meine, sagt Murat. Bei früheren Bauprojekten dieser Genossenschaft hätten die MieterInnen jedoch stets mehr bezahlen müssen als zuvor. «Das wird auch hier der Fall sein.»
Wichtige Pufferfunktion
Der Begriff «gentrification» wurde 1964 in London geprägt, und die Stadt hat seither verschiedene Phasen durchgemacht. Die britische Soziologin Ruth Glass beschrieb damit zunächst den Prozess, bei dem VertreterInnen der Mittelklasse – Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Künstlerinnen – in traditionelle ArbeiterInnenviertel wie Camden oder Islington zogen und Mehrfamilienhäuser zu Einfamilienhäusern umbauten. Diese Form der Gentrifizierung trat in den achtziger Jahren zunehmend in den Hintergrund und wurde abgelöst von einer umfangreicheren Entwicklung, erläutert Paul Watt, Dozent in Urban Studies am Birkbeck College, University of London: «Bauunternehmer gestalteten ganze Arbeiterquartiere völlig um, indem sie die alten Gebäude abrissen und an ihrer Stelle neue, moderne Bauten errichteten. Das klassische Beispiel sind die Docklands.»
Die dritte Phase, so Watt, begann in den späten neunziger Jahren und hat in den letzten Jahren an Intensität gewonnen: «Ich nenne es ‹state-led gentrification›: Treibende Kraft sind die staatlichen Behörden, die Aufwertungsprojekte selbst initiieren und vorantreiben, insbesondere in Sozialbausiedlungen.»
Um zu verstehen, weshalb diese Art der Gentrifizierung die britische Hauptstadt so tiefgreifend umgestaltet, muss man einen Blick in die Geschichte der Londoner Gemeindebauten werfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg schuf der Staat im ganzen Land massenweise Wohnungen: Von 1946 bis 1958 entstanden vier Millionen Council Houses, und die Lokalbehörden wurden bald – besonders in der Hauptstadt – zum wichtigsten Anbieter von Wohnraum. Viele dieser Wohnungen waren verhältnismässig geräumig und modern und deshalb auch beliebt. Watt hat berechnet, dass zu Beginn der achtziger Jahre vierzig Prozent der Bevölkerung der inneren Londoner Stadtbezirke in Sozialwohnungen lebten; in Southwark waren es 65 Prozent, in Tower Hamlets sogar über 80 Prozent. «Dies war eine riesige Transformation», sagt Paul Watt. «Sozialwohnungen in London waren nie ein marginales Phänomen wie etwa die sogenannten Projects in amerikanischen Grossstädten. Ein bedeutender Teil der Londoner Bevölkerung ist in Sozialwohnungen aufgewachsen.»
Weil ärmere Leute dank der Council Estates vor steigenden Mieten geschützt sind, haben Sozialwohnungen eine wichtige Funktion als Puffer gegen die Gentrifizierung im Londoner Zentrum. Ihre Bedeutung ist umso grösser, als hier der zweite Bremsblock fehlt: London hat – anders als beispielsweise Berlin oder New York – keine Mietpreisbindung. Eine Privatwohnung wird in der Regel für ein halbes oder ein Jahr vermietet, und mit jedem Mieterwechsel können die HausbesitzerInnen mehr Geld verlangen. So stellte der Sozialwohnungsbau jahrzehntelang sicher, dass sich die inneren Stadtbezirke Londons durch soziale und ethnische Vielfalt auszeichneten und von der Entwicklung verschont blieben, wie sie etwa Paris erlebt hat: ein teures, gentrifiziertes Zentrum, umgeben von Banlieues.
Verlust von 8000 Sozialwohnungen
Dann kamen Margaret Thatcher und ihr Right-to-Buy-Programm: Zu einem grosszügigen Rabatt konnten SozialmieterInnen ihre Wohnungen kaufen – unter anderem hoffte die Premierministerin, der Besitz von Eigenheimen würde die konservativen Instinkte der BritInnen nähren. Seit 1980 sind rund zwei Millionen Sozialwohnungen in private Hände übergegangen. Gleichzeitig wurden fast keine Council Homes mehr gebaut, und zu wenig Geld floss in die Sanierung der bestehenden Wohnungen. «Ende der neunziger Jahre waren viele Estates heruntergekommen, umfassende Renovationsarbeiten wurden immer dringender», sagt Paul Watt. «Die Gesamtkosten wurden 1997 auf 19 Milliarden Pfund geschätzt.»
Aber New Labour erachtete Council Housing als Überbleibsel von Old Labour: Anders als etwa der nationale Gesundheitsdienst NHS galten Sozialwohnungen als unbeliebter Teil des Wohlfahrtsstaats, und so fehlte der politische Wille, das nötige Geld auszugeben. Die bevorzugte Lösung war der sogenannte Stock Transfer: die Übertragung der Gemeindebauten an Housing Associations, die die Aufwertung selbst übernehmen würden – oft mithilfe privater BauunternehmerInnen, die in erster Linie nach Profit streben und kein Interesse an der Bereitstellung billigen Wohnraums haben.
Im vergangenen Jahrzehnt sind fünfzig Londoner Estates «aufgewertet» worden, was laut Zahlen der Londoner Stadtbehörde zum Verlust von 8000 Sozialwohnungen geführt hat. Demgegenüber hat sich die Zahl der Wohneinheiten, die zu Marktpreisen vermietet werden, in der gleichen Zeitspanne verzehnfacht.
Widerstand gegen die Wohnungsnot
Doch seit Ende letzten Jahres wehren sich die BürgerInnen immer heftiger gegen die Gentrifizierung ihrer Quartiere. Die Besetzung des Aylesbury Estate war nur eine von vielen: Im vergangenen Herbst besetzten alleinerziehende Mütter in Stratford ein leer stehendes Gebäude im Schatten des Olympiastadions und konnten so verhindern, dass sie die Gemeinde ausserhalb ihres Viertels unterbrachte. In Hackney versuchte ein US-amerikanisches Bauunternehmen, die MieterInnen eines Estate rauszuschmeissen und die Mietpreise drastisch hinaufzusetzen; doch ein medienwirksamer Protest veranlasste die Firma dazu, den Estate weiterzuverkaufen, der neue Besitzer versprach, die tiefen Mieten beizubehalten.
«Der Widerstand gegen Wohnungsnot und Gentrifizierung hat in der letzten Zeit definitiv zugenommen», sagt Aktivistin Tanya Murat. «Das hat unter anderem dazu geführt, dass jetzt alle Kandidaten für die im Mai 2016 stattfindende Bürgermeisterwahl von der Wohnungskrise reden – vor drei Jahren war das noch nicht der Fall. Das ist unseren Kampagnen zu verdanken.»
Obdachlos wegen der Miete
Die Gentrifizierung der Sozialbausiedlungen ist Teil einer breiteren Wohnungskrise in London. Am augenfälligsten ist der Mangel an bezahlbaren Unterkünften: Um mit der Nachfrage Schritt zu halten, müssten Schätzungen zufolge jährlich 50 000 Wohnungen gebaut werden; letztes Jahr wurde weniger als die Hälfte davon tatsächlich fertiggestellt.
Unterdessen steigen die Immobilienpreise weiter an. Im Durchschnitt ist ein Haus um ein Drittel teurer als 2007, Kürzungen der Sozialzuschüsse zwingen immer mehr Leute, ausserhalb der Innenstadt nach einer Unterkunft zu suchen. Laut Recherchen des «Independent» mussten Tausende Familien aus inneren Stadtbezirken wegziehen – ein Teil sogar ganz weg aus der Hauptstadt –, weil die wöchentlichen Sozialbezüge 2013 auf 500 Pfund (circa 750 Franken) pro arbeitslose Familie beschränkt worden sind. Viele konnten sich die Miete nicht mehr leisten und landeten auf der Strasse. Die Obergrenze für Sozialleistungen wird nächstes Jahr noch einmal heruntergesetzt: Ab April wird ein Haushalt in London nur noch 442 Pfund pro Woche beziehen können.