Aufrüstung: «Die Täter waren den Behörden bekannt»

Nr. 47 –

Die Attentate der letzten Jahre in Europa zeigen: Mehr Überwachung bedeutet immer weniger Freiheit. Aber eben nicht zwangsläufig mehr Sicherheit.

Es ist das grundsätzliche Problem der Geheimdienste, dass sie nie zur richtigen Zeit eingreifen. Sie kommen entweder zu früh oder zu spät. Beide Fälle sind fatal: Kommen sie zu spät, sterben Menschen. Kommen sie zu früh, verhaften sie bestenfalls Verdächtige, keine TäterInnen.

Das Problem lässt sich nicht lösen, indem die Geheimdienste noch mehr Kompetenzen erhalten. Denn: Wer immer mehr überwacht und damit das Vertrauen in seine BürgerInnen aufgibt, gibt die Werte auf, die er zu verteidigen vorgibt.

In den vergangenen Tagen haben die Debatten um die Sicherheit einen bedrohlichen Zungenschlag erhalten. CIA-Direktor John Brennan sagte: Wer sich für Privatsphäre einsetze, sei für die Anschläge in Paris mitverantwortlich. Das deutsche «Handelsblatt» schrieb: Wer den Terroranschlag als «Terroranschlag» bezeichne, verharmlose einen «weltweit geführten Krieg». Und der Chefredaktor der NZZ verlangte die «enge Verzahnung» von Polizei, Geheimdiensten und Armee. Das habe «in der Epoche des globalen Dschihad die besten Resultate» gebracht. Es braucht schon eine reichliche Portion Verachtung für den Rechtsstaat, um nach vierzehn Jahren «War on Terror» ernsthaft zu behaupten, die US-Strategie des Überwachens, Folterns und Tötens habe sich als erfolgreich erwiesen.

Umfassende Kompetenzen

Nur kurz nach den Pariser Anschlägen ertönte der Ruf nach mehr Überwachung. Bundesrat Didier Burkhalter etwa forderte noch mehr Mittel für den Schweizer Geheimdienst und weibelte mit Verweis auf die Anschläge in Frankreich für das neue Nachrichtendienstgesetz. Dabei gehört Frankreich schon heute zu den Staaten mit den schärfsten Überwachungsgesetzen Europas: Das Land speichert seit 2006 systematisch die Vorratsdaten seiner BürgerInnen für zwölf Monate, es verfügt über eine fast flächendeckende Videoüberwachung, und es überwacht Fluggastdaten. Erst vergangenen Juni wurde zudem ein Antiterrorpaket geschnürt, das den Behörden umfassende Kompetenzen einräumt: So dürfen die Geheimdienste etwa Wohnungen verwanzen und Autos mit Peilsendern versehen, sie dürfen eine Art elektronisches Schliessfach bei den Telecomanbietern installieren, um die Metadaten aller InternetnutzerInnen aufzuzeichnen und die Daten mittels Algorithmen auf Verdächtiges zu durchsuchen.

Verhindern konnten all diese Kompetenzen des französischen Präventivapparats die Anschläge vom 13. November 2015 nicht.

Stattdessen fiel bald darauf ein Satz, der so ohnmächtig wirkte wie die Tausendschaften Polizisten, die vergangene Freitagnacht durch die Strassen von Paris patrouillierten: «Die Täter waren den Behörden bekannt.»

Sie mordeten trotzdem

Zwei der drei Terroristen, die ins Bataclan eindrangen und mindestens 89 Menschen töteten, waren in den Akten der französischen Geheimdienste verzeichnet (der dritte Attentäter ist bislang noch nicht identifiziert). Weitere Beteiligte der Pariser Anschläge sollen die Geheimdienste ebenfalls gekannt haben – so wie bei fast allen Terroranschlägen der jüngsten Zeit in Europa.

Die Gebrüder Kouachi, die am 7. Januar 2015 in die Redaktion des Satiremagazins «Charlie Hebdo» drangen und insgesamt zwölf Menschen töteten, standen viele Jahre unter Beobachtung des Geheimdienstes, ehe dieser 2013 die Überwachung von Chérif Kouachi und im Sommer 2014 die von Saïd Kouachi einstellte. Auch Amedy Coulibaly, der am 8. Januar 2015 einen jüdischen Supermarkt überfiel und vier Menschen tötete, war der Polizei als Mitglied einer Dschihadistengruppe bekannt. Ebenso war es Mohammed Merah, der im März 2012 sieben Menschen in Toulouse erschoss. Oder Mehdi Nemmouche, ein 29-jähriger Franzose und ehemaliger Syrienkämpfer, der am 24. Mai 2014 vier Menschen im Jüdischen Museum in Brüssel tötete. Oder Yassin Salhi, ein 35-jähriger Familienvater, der am 25. Juni 2015 einen Mann köpfte und versuchte, sich in der Nähe einer Chemiefabrik bei Lyon in die Luft zu sprengen. Oder Ayoub El Kahzani, der am 21. August 2015 im Thalys-Schnellzug zwischen Brüssel und Paris das Feuer auf die Passagiere eröffnete, ehe er überwältigt werden konnte.

All diese Terroristen waren keine Gespenster, die unter dem Radar der Behörden blieben oder durch lückenhafte Überwachungsgesetze schlüpften. Sie waren bekannt. Sie standen unter Beobachtung. Und sie mordeten trotzdem.