Geheimdienst: «Viele Leute haben ein mulmiges Gefühl»

Nr. 48 –

Gegenwärtig sammeln AktivistInnen Unterschriften für das Referendum gegen das neue Nachrichtendienstgesetz. In einer Zeit, wo der Terrorismus ganze Städte lähmt, muss das nicht einfach sein. Doch ein Augenschein beim Unterschriftensammeln zeigt Verblüffendes.

«Mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz stehen die Freiheitsrechte auf dem Spiel.» Lewin Lempert (rechts) beim Unterschriftensammeln vor einem Zürcher Alterszentrum.

Viele bürgerliche PolitikerInnen reden davon, nach den Anschlägen in Paris brauche es mehr Überwachung. Vor dem Wahllokal im Alterszentrum Bullinger-Hardau in Zürich stehen zwei junge Männer, die vom Gegenteil überzeugen wollen. Es ist Sonntagmorgen, Ständeratswahlen in Zürich sind angesagt, die Gelegenheit fürs Unterschriftensammeln ist günstig.

Stefan Bruderer und Lewin Lempert tigern mit Referendumsbögen gegen das neue Nachrichtendienstgesetz auf und ab. Gegen dieses Gesetz, das im letzten September fast widerstandslos durchs Parlament geflutscht ist. Beide sind Mitglied der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und der Stadtzürcher Juso, und sie wollen verhindern, dass der Schweizer Geheimdienst neue, sehr weitgehende Überwachungskompetenzen erhält. Dass er Telefone abhören, E-Mails mitlesen, Wohnungen verwanzen, per Trojaner in fremde Computer eindringen, Privatpersonen und Unternehmen zur Auskunft verpflichten kann – in viel grösserem Ausmass als bisher. Vor allem aber, dass er in Form der Kabelaufklärung künftig eine Massenüberwachungstechnik zur Verfügung hat.

«Kennen Sie George Orwells ‹1984›?»

Die erste Wählerin kommt, eine junge Frau mit edlen Klamotten und Designerbrille. Sie zupft sich die Kopfhörer aus den Ohren, hört sich an, um was es geht, und unterschreibt den Unterschriftenbogen, ohne zu zögern. Warum sie so schnell unterschrieben habe, will die WOZ wissen. Sie antwortet mit einer Gegenfrage: «Kennen Sie das Buch von George Orwell, ‹1984›? Das Buch über die totale Überwachung? Es wird heute schon viel überwacht, und jetzt bewegen wir uns noch mehr in Orwells Richtung.» Sagts, wendet sich ab und geht.

Ein erster Erfolg. Doch – das ist die Vermutung – das Unterschriftensammeln wird harzig verlaufen. Denn der Terroranschlag in Paris liegt nur eine gute Woche zurück, und obendrein sind die Zeitungen an diesem grauen kalten Wahlsonntag voll mit Berichten über Brüssel, das in Terrordrohungen erstarrt. Immer mehr WählerInnen strömen zum Wahllokal, und jetzt kommt die grosse Überraschung: Neun der ersten zehn angesprochenen WählerInnen unterschreiben das Referendum ohne Zögern. «Die Leute haben realisiert, dass die flächendeckende Überwachung zu weniger Freiheit führt. Sie haben ein mulmiges Gefühl», sagt GSoA-Sekretär Lewin Lempert. Und Stefan Bruderer stellt fest: «Sehr viele Menschen haben kein Vertrauen in die neuen Überwachungsmassnahmen. Man ist skeptisch.»

Vor dem Stimmlokal gibt es mittlerweile vereinzelte WählerInnen, die ihre Unterschrift verweigern. «Ich bin ja auch gegen diese Überwachung», sagt eine ältere Frau gegenüber Stefan Bruderer, «aber jetzt müssen wir den Geheimdiensten doch die Mittel in die Hände legen, die sie brauchen.» Stefan Bruderer widerspricht. Frankreich habe nach «Charlie Hebdo» die Gesetze verschärft und die Überwachung ausgedehnt, mehr Sicherheit habe das aber nicht gebracht. «Wer Anschläge plant, sorgt dafür, dass er vom Radar der Geheimdienste verschwindet.» Doch die Frau lässt sich nicht umstimmen.

Lewin Lempert streitet mit einem Mann, der eine mit Stickern benähte Lederjacke trägt. «Wir müssen doch reagieren auf die Gefahr», meint der Mittvierziger, «wollen Sie denn einfach untätig bleiben?» Nein, antwortet Lewin Lempert. «Die Staatsanwaltschaft und die Polizei sollen im Rahmen des Rechtsstaats die Mittel bekommen, die sie zur Terrorabwehr brauchen.» Doch jetzt gehe es um viel mehr. «Jetzt stehen die Freiheitsrechte auf dem Spiel.» – «Welche Freiheitsrechte denn?», meint der Mann, «es wird ja sowieso schon alles überwacht und gespeichert.» Er bleibt beim Nein.

Im Gespräch mit den WählerInnen betont Lewin Lempert, die Schweiz müsste auf eine viel aktivere Friedenspolitik setzen: «Ich meine damit, dass wir die Waffenexporte etwa nach Saudi-Arabien stoppen müssen. Gerade letzte Woche hat gemäss ‹Landbote› ein saudisches Militärflugzeug auf dem Flughafen Kloten Munition der Ruag abgeholt. Wer Waffen in den Nahen Osten liefert, riskiert, dass diese in den Händen des IS landen.»

Noch fehlt die Hälfte

Nach zwei Stunden ziehen die beiden Bilanz: Eine Handvoll WählerInnen habe nicht unterschrieben, 55 hingegen schon. Und «Paris» hat dabei keine überragende Rolle gespielt. Insgesamt sammelte allein die Juso Zürich am Wochenende rund 400 Unterschriften. «Das zeigt, dass wir auf breite Unterstützung stossen», sagt Lewin Lempert. Auch Juso-Präsident Fabian Molina, der drei- bis viermal pro Woche sammelt, bestätigt dies. Besonders engagiert beim Referendum seien die Juso, die SP, die GSoA, der Verein Grundrechte, die Digitale Gesellschaft, die Gewerkschaft Syndicom und die Piratenpartei. Der Beitrag der Grünen hingegen sei enttäuschend, sagt Molina, «da erwarten wir noch einen Ruck».

Den wird es brauchen. Bis 14. Januar müssen die nötigen 50 000 Unterschriften beglaubigt sein, gesammelt seien bis heute aber erst 25 000. «Es wird eng, aber wir schaffen es, wenn alle mitziehen», sagt Molina.

Unterschriftenbögen zum Herunterladen gibt es auf der Website www.schnüffelstaat.ch .