Glyphosat: Kniefall vor der Industrie
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit hält das Pestizid Glyphosat im Gegensatz zur Weltgesundheitsorganisation für nicht krebserregend. Eine Spurensuche zeigt: Vieles spricht für ein vorsorgliches Verbot.
In vielen ländlichen Gegenden Argentiniens haben sich die Krebsraten im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts vervielfacht, vor allem bei Kindern. Sie wohnen in Dörfern, in deren Umgebung seit Ende der neunziger Jahre grossflächig gentechnisch verändertes Soja angebaut und aus der Luft mit Pestiziden besprüht wird. Diese Pestizide beruhen zumeist auf dem Wirkstoff Glyphosat, dessen Einsatz dort massiv zugenommen hat: von drei Litern pro Hektare auf zwölf Liter im Jahr 2013. Der Kinderarzt Medardo Avila Vazquez dokumentiert den Zusammenhang zwischen Glyphosat und Krebs seit Jahren, die jüngsten Zahlen des Krebsregisters der Provinz Cordoba geben ihm recht: Wo Glyphosat über Sojamonokulturen versprüht wird, sind die Krebsraten doppelt so hoch wie in anderen Gebieten.
Die Sachlage in Argentinien sei «für den Entscheid in der EU irrelevant» – auf diesen Standpunkt stellt sich das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Aufgrund seiner Überprüfung von Glyphosat hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) letzten Donnerstag empfohlen, den Wirkstoff weiterhin zuzulassen: Glyphosat sei nicht krebserregend.
Das steht in krassem Widerspruch zur jüngsten Einschätzung der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie stufte Glyphosat im März 2015 als «wahrscheinlich krebserregend» ein – was gemäss EU-Verordnung ein Verbot zur Folge haben müsste.
Pestizid im Urin
Das Breitbandherbizid wird weltweit am häufigsten gegen Unkraut eingesetzt und beschert Konzernen wie Syngenta und Monsanto jährlich Umsätze in Milliardenhöhe. Allein in den USA kommt es auf über neunzig Prozent aller Weizen-, Soja-, Mais- und Baumwollfelder zur Anwendung. Auch die europäische Landwirtschaft setzt auf Glyphosat: In vielen Ländern verwenden es die BäuerInnen sogar noch ein bis zwei Wochen vor der Getreideernte, um ein gleichmässiges Abreifen zu erreichen und die Ernte zu erleichtern; auch bei Sonnenblumen wird die sogenannte Sikkation auf über der Hälfte aller Felder angewendet, in Britannien werden vier von fünf Rapsfeldern so behandelt. Selbst Behörden und Private setzen auf Glyphosat: in öffentlichen Parkanlagen, entlang von Strassen und Schienen sowie im eigenen Garten.
Kein Wunder, taucht das Pestizid auch dort auf, wo man es nicht haben will. Die deutsche Zeitschrift «Öko-Test» hat im September 2012 zwanzig unterschiedliche Getreideprodukte im Labor auf Glyphosatrückstände testen lassen: Fast 75 Prozent davon waren belastet. Vor wenigen Monaten brachte eine Auftragsstudie des Westdeutschen Rundfunks dieselben Resultate. Glyphosat findet sich in täglich konsumierten Grundnahrungsmitteln wie Brot, Müesliflocken und Pasta.
Und nicht nur das: 2014 sammelte der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland in achtzehn europäischen Ländern menschliche Urinproben – auch in der Schweiz. In fast der Hälfte davon fanden sich Spuren von Glyphosat – in Deutschland und Britannien waren sogar siebzig Prozent der Proben belastet. Zurzeit veranstaltet das Umweltinstitut München mit weiteren NGOs in Deutschland «Urinale» in verschiedenen Städten. Allein die Onlinenachfrage nach den Urintests hat schon nach wenigen Tagen die logistischen Möglichkeiten der Initiative gesprengt. Viele Menschen sind verunsichert: Woher stammt das Glyphosat in ihrem Körper, und wie gefährlich ist es?
«Man weiss schlicht zu wenig über die tatsächlichen Glyphosatbelastungen in der Umwelt, weil sie unzureichend überwacht werden», sagt der deutsche Toxikologe Peter Clausing (vgl. «Explizite Lügen» ). Ein Problem, das auch in der Schweiz existiert. Nur schon der Versuch, herauszufinden, wo hierzulande wie viel Glyphosat eingesetzt wird, ist praktisch unmöglich. Zwar liefert das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Anfrage die Zahlen zum Glyphosatverkauf der letzten Jahre: Sie schwanken zwischen 220 und 350 Tonnen. «Wir wissen aber nicht, wie viel davon in privaten Gärten landet, wie viel in öffentlichen Anlagen verwendet und wie viel in der Landwirtschaft eingesetzt wird», sagt BLW-Mitarbeiterin Eva Wyss. «Diese Zahlen würden mich auch interessieren.»
Auf 270 000 Hektaren Ackerfläche werden in der Schweiz Getreide, Gemüse und Obst angebaut. Konventionelle Ackerkulturen, die den Löwenanteil davon ausmachen, werden zu neunzig bis hundert Prozent mit Pestiziden behandelt. «Glyphosat ist nur eines von vielen eingesetzten Herbiziden», sagt David Brugger vom Schweizer Bauernverband. «Wir setzen es vor allem gegen schwer bekämpfbare Unkräuter und im pfluglosen Anbau ein, um den Boden zu schützen» (siehe WOZ Nr. 36/2015 ). Tatsächlich dürfte nach einer Hochrechnung der landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Agroscope aus dem Jahr 2013 nur knapp die Hälfte des verkauften Glyphosats in der Landwirtschaft landen.
Wie belastet heimische Ackerfrüchte damit sind, ist weitgehend unbekannt. Gemäss dem Label IP Suisse, dessen Gütesiegel für einen möglichst geringen Pestizideinsatz steht, hat das interne Schadstoffmonitoring bislang keine Rückstände von Glyphosat in Gemüse oder Getreide gefunden. Auch Tierfutter aus importiertem Soja sollte unbelastet sein, weil die Schweiz gentechnisch veränderte und damit glyphosatbehandelte Soja nicht erlaubt, sagt David Brugger. «Importierte Teigwaren hingegen, die Sie im Laden kaufen, können durchaus Rückstände enthalten.» Ein möglicher Grund ist die Sikkation, die in der Schweiz verboten ist: Nach dieser Behandlung kurz vor der Ernte baut sich das Glyphosat im Getreide nämlich nicht mehr ab.
Aus dem Boden selbst hingegen verschwindet es mit einer Halbwertszeit von 7 bis 21 Tagen relativ rasch wieder. Einzig bei starkem Regen besteht die Gefahr, dass es ausgewaschen wird. Allerdings: Wann immer irgendwo in der Schweiz nach Glyphosatrückständen in Bächen, Flüssen und Seen gesucht wird, findet man diese auch. Und zwar oft in Konzentrationen, die den Grenzwert von fünfzig Mikrogramm pro Liter überschreiten. Diesen Sommer war das etwa in der Wyna im Aargau wiederholt der Fall, obwohl es nicht regnete. Die Behörden vermuten «unsachgemässe Anwendung» von Privaten.
Im Wasser baut sich Glyphosat nur schlecht wieder ab. Das zeigen auch verschiedene Studien von Gleisabwässern. Doch für die SBB, die ihre Tausende von Kilometern Schienen frei von Unkraut halten müssen, gibt es keine Alternative zum Einsatz von rund zwei Tonnen Glyphosat jedes Jahr. Ein Vielfaches davon, nämlich jeder vierte Liter, landet in der Schweiz im «nicht gewerblichen Bereich», wie die Hochrechnungen von Agroscope nahelegen. Christian Braun, der im Auftrag der SBB die Gleisabwässer verfolgt hat, ist auf überhöhte Glyphosatkonzentrationen in einem nahen Bach gestossen, die er sich nur mit einer «unsachgemässen Anwendung von Privatpersonen» erklären kann. «Für den Privathaushalt braucht es kein Glyphosat – so was gehört nicht in die Hände von ungeschulten Leuten», findet der Chemiker. «Glyphosat sollte überhaupt nicht in den freien Verkauf gelangen.»
Studien im Auftrag der Hersteller
Diese Überzeugung teilen immer mehr Menschen in der Schweiz, seit die WHO Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend eingestuft hat. Doch einzig Migros und Coop haben seither glyphosathaltige Pestizide aus ihrem Sortiment genommen. Unzählige andere Detailhändler und Landiläden haben eine Auswahl der 114 zugelassenen Pestizide auf Glyphosatbasis weiterhin im Angebot. Eine ganze Reihe von Petitionen fordert mittlerweile ein Verbot von Glyphosat, lanciert von NGOs wie von PolitikerInnen. Der Jura hat vor wenigen Tagen als erster Kanton beschlossen, glyphosathaltige Pestizide aus dem Verkauf zu nehmen.
Zumindest eine «Studie über die Glyphosatauswirkungen in der Schweiz» hat auch die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) des Nationalrats Anfang November vom Bundesrat gefordert. In ihrem Postulat verlangt sie endlich Klarheit über den gewerblichen wie privaten Einsatz von Glyphosat. Ausserdem sollen Lebensmittel aus dem In- und Ausland ebenso auf Rückstände untersucht werden wie das Futter von Nutztieren.
Das wohl grösste Problem bleibt damit, dass man nach wie vor praktisch nichts über die Wirkung von Glyphosat auf Mensch und Tier weiss. Das Gros aller Sicherheitsstudien, auf die sich das BfR in seinem Bericht zuhanden der Efsa stützt, stammt von den Pestizidherstellern selbst. Unabhängige Studien wie jene von Gilles-Éric Séralini haben dagegen einen schweren Stand. Der französische Molekularbiologe sammelt seit Jahren Evidenz für die Schädlichkeit von gentechnisch verändertem und mit dem glyphosathaltigen Pestizid Roundup Ready von Monsanto behandeltem Getreide. Dafür erhielt er vor kurzem den Whistleblowerpreis des Verbands Deutscher Wissenschaftler. Das BfR hingegen beurteilt Séralinis Langzeitstudien, die einen deutlichen Zusammenhang zwischen chronischer Aufnahme von Glyphosat und Tumoren an Mäusen zeigen, schlicht als irrelevant, weil der Biologe mit dem eigentlichen Pestizid arbeite und «die Toxizität der Beistoffe höher sein kann als die des Wirkstoffs Glyphosat».
«Das Problem ist genau, dass die Zulassungsbehörden die chronische Aufnahme nicht anschauen», kritisiert Martin Forter, Direktor der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz und Mitinitiator einer Petition zum Verbot von Glyphosat. Für ihn gibt es nur eine Erklärung für den Entscheid der Efsa, Glyphosat als nicht karzinogen einzustufen: «Das ist ein Kniefall vor der Industrie.»
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland hat das EU-Zulassungsverfahren für Glyphosat in einer Studie überprüft und kommt darin ebenfalls zum Schluss, dass die EU-Pestizidgesetzgebung «ganz auf die Bedürfnisse der Hersteller zugeschnitten» ist. Denn sie legt fest, dass die Pestizidhersteller die «regulatorischen Studien», die die Sicherheit eines Wirkstoffs belegen sollen, nicht nur selber liefern, sondern auch gleich noch selber bewerten sollen. Diese «regulatorischen Studien» werden ausserdem als Geschäftsgeheimnis eingestuft, bleiben also unveröffentlicht und damit für unabhängige WissenschaftlerInnen nicht überprüfbar. Welche unabhängigen Studien überhaupt zusätzlich zu den Industriestudien berücksichtigt werden sollen, ist gemäss Pestizidgesetzgebung ebenfalls weitgehend den Herstellern zu überlassen.
Vorsorgeprinzip anwenden
«Wem soll ich denn jetzt glauben?», fragt Forter. «Der WHO, die sagt, Glyphosat sei wahrscheinlich krebserregend? Oder der Efsa, die genau das verneint?» Die Efsa hat darauf eine einfache Antwort: Die WHO berücksichtige eben auch die Beistoffe, ohne dabei auf die genaue Zusammensetzung des Pestizids zu achten, während sie, die Efsa, ausschliesslich den Wirkstoff Glyphosat untersuche. Für die Bewertung der einzelnen Pflanzenschutzmittel sei sie nicht zuständig – das liege in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten.
Damit ist indirekt auch die Schweiz gemeint, hat sie doch bislang stets die Zulassungsentscheide der EU nachvollzogen. Das zuständige BLV will erst einmal abwarten. Im Mai soll eine spezielle Taskforce der WHO Glyphosat erneut beurteilen. Erst danach wolle man entscheiden, «ob für die Schweiz Handlungsbedarf besteht». «Gemäss aktuellem Wissensstand sind die zulässigen Rückstände gesundheitlich unbedenklich», heisst es auf Anfrage. «Aus diesem Grund sind keine vorsorglichen Massnahmen notwendig.»
Doch wo grosse Wissenslücken darüber bestehen, ob ein Stoff für Mensch und Umwelt ein Risiko bedeutet, sollten mögliche Schäden im Voraus vermieden werden – so verlangt es das Vorsorgeprinzip. Für Martin Forter ist deshalb klar: «Unsere Behörden sollten sich endlich dazu durchringen, das Vorsorgeprinzip anzuwenden.»