Unterwegs in Paris: «Der Absturz kommt erst noch»
Die Anschläge gegen die Pariser Jugend haben auch die linke Szene der Stadt getroffen. Man betrauert die Toten und das Auseinanderdriften der eigenen Gesellschaft. Einige bewaffnen sich.
Weil die antifaschistische Szene von Paris traditionell eher militant ist und Teile des 11. Arrondissements, in dem die Massenmörder am Freitag um sich geschossen haben, in antifaschistischer Hand sind, spielten sich in der Verwirrung und Verunsicherung seltsame Szenen ab: Menschen im Quartier griffen zu Waffen. Nicht dass sie davon ausgegangen wären, mit einem Revolver, Schreckschusspistolen, Gummischrotgewehren oder Tränengassprays, so gross wie Feuerlöscher, wirklich etwas gegen ein automatisches Maschinengewehr ausrichten zu können. Aber wenn man seine Strassen in der Vergangenheit in Strassenkämpfen weder den Neonazis noch den Hooligans von Paris Saint-Germain noch der in der französischen Metropole ebenfalls stark präsenten und schlagkräftigen rechtsextremen Jüdischen Verteidigungsliga überlassen hat, dann sicher auch nicht islamistischen Attentätern.
Die Warnung war per Handy gekommen: «Da sind Verrückte, die im Elften auf Bars schiessen.» Als nur ein paar Gehminuten weiter südlich die Schüsse durch die Nacht hallten und klar wurde, dass es sich nicht um Feuerwerk handelte, zogen die Türsteher einer linken Pariser Kneipe zwar die Eisenjalousien bis zur Hälfte herunter, doch die Musik verstummte nicht, und auch der Bierfluss versiegte nicht. «Wir bleiben offen», rief der Barchef, und Männer aus der Szene postierten sich auf der Strasse, Revolver in der Innenseite der Lederjacke.
«Unsere Pariser Psychose»
Je klarer wurde, dass es sich um terroristische Massenmorde handelte, je mehr sich die anderen Bars leerten, desto mehr Menschen strömten hierhin, in eine jener wilden linken Kneipen der Metropole, die schon manchen Sturm überstanden hatten, einen Ort, den die Polizei meidet, wo die Kneipenwirte ihre Probleme mit aggressiven Betrunkenen oder messerstechenden Dealern selbst lösen. Die Kneipe war in jenen chaotischen Stunden offenbar ein Ort, an dem sich die Stammgäste sicher fühlten. Gegen Mitternacht war der Laden voll, und die Leute auf der Strasse mit auffällig ausgebeulten Jacken beäugten jeden, der sich der Bar näherte. Und natürlich jedes Auto. «Das ist unsere Pariser Psychose», sagte einer der Männer tags darauf nach einem Fehlalarm. «Überall springen Menschen nervös davon, wenn der Auspuff eines Motorrads explodiert.»
Das 11. Arrondissement ist eine lokale Ausgehmeile, hier pulsiert Paris fernab von Touristenfallen und den Reichen. Bars reihen sich an Bars, Clubs an Restaurants. Der Bezirk ist das multikulturelle Herz des gesellschaftlichen Pariser Lebens. Er ist vielerorts laut und dreckig und manchmal sogar ein wenig bedrohlich, an der nächsten Ecke dann aber wieder ganz harmlos. Auf kiffende Quartiergangster folgen Galerien, überfüllt mit «bobos», ein bisschen «bourgeois», ein bisschen «bohème». Der Bezirk ist tendenziell linksalternativ, auf jeden Fall multikulturell, ganze Strassenzüge sind chinesisch geprägt, andere arabisch, afrikanisch. Die besten senegalesischen Restaurants der Metropole befinden sich hier, im oberen Teil der Rue Oberkampf. Ein Ort, an dem der Bürgermeisterkandidat des Front National samt seinen Bodyguards von einem unzufriedenen Quartierbewohner zum Teufel gejagt wurde, als er einst hier versuchte, Plakate zu kleben und Wahlkampf zu machen. Es ist ein Ort mit einer aktiven linken Szene, in der sich nach den Anschlägen auf «Charlie Hebdo» ein Graben aufgetan hat zwischen AtheistInnen, die Religion ablehnen und sich mit «Charlie» solidarisierten, und solchen, die in der gesellschaftlichen Schlechterstellung der MuslimInnen eine Legitimation für Gewalt sehen.
Auch das Bataclan gehört zur Community im Elften, auch wenn es mit seinem kommerziell ausgerichteten Programm bestimmt nicht der interessanteste Musikclub in der Stadt ist. Aber fast jeder in den kleinen Szenebars des Viertels hat nun eine Geschichte zu erzählen zum Freitag, selbst der CD-Player in der Ecke einer kleinen Punkerkneipe erzählt eine: Er war ein Geschenk einer Lichttechnikerin aus dem Bataclan – denn die in dem grossen Kommerzschuppen merkten ja nicht mal, wenn etwas fehlte. «Jetzt ist sie tot», sagt der Barkeeper. Erschossen bei der Arbeit am Freitag, so wie andere TechnikerInnen auch, junge und ältere PunkrockerInnen, die sich in dieser Bühnen- und Lichttechnikszene mit Jobs versorgten.
Zu gut gefühlt
Ein anderer Kneipengast lag am Freitag während dreier Stunden hinter dem Tresen des Bataclan auf dem Boden, während um ihn herum geschossen wurde.
Einer hörte irgendwann keine Salven mehr, sondern nur noch Einzelschüsse. Das war der Moment, in dem die Mörder über die am Boden liegenden Menschen schritten und jeden, der sich bewegte, exekutierten. Dann waren sie plötzlich irgendwohin verschwunden, offenbar auf die Balustrade, und man rannte durch die Notausgänge auf die Strasse.
Einer schleppte einen Verletzten raus, dem man ein Loch in den Fuss geschossen hatte.
Einer ging am Sonntag zum Arzt, weil er sich, nachdem er so knapp dem Tod entkommen war, so gut fühlte, viel zu gut. Der Arzt sagte: «Keine Sorge, das ist eine normale Reaktion deines Körpers, der Absturz kommt noch.»
Natürlich war es ein Angriff auf die Jugend. Nicht auf die Reichen, nicht auf die Etablierten, nicht auf die TouristInnen, nicht auf irgendeine bestimmte politische Strömung. Der Anschlag zielte wahllos auf die Pariser Jugend. Es hätte jeden treffen können. Vor einem kleinen Bistro auf dem Boulevard Voltaire, wo ich selbst noch im Sommer Weisswein getrunken hatte: überall Blumen, überall Blut. Vielleicht, sagt ein erfahrener Türsteher, fiel die Wahl deshalb auf das Bataclan, weil in diesem Club der Weg von der Eingangstür in den Konzertsaal bloss ein paar Meter beträgt, nicht fünfzig Meter wie in vielen anderen Clubs. Und weil die Strassen hier breit sind, sodass man mit dem Auto immer einen Weg findet, davonzurasen, was an anderen Orten nicht möglich wäre. Vielleicht, sagt ein anderer, spielte tatsächlich auch eine Rolle, dass der Club bis im Sommer während vierzig Jahren in jüdischem Besitz war und mitunter zionistische Filmabende veranstaltete, weswegen er in der Vergangenheit auch schon von IslamistInnen bedroht worden war.
Die Täter haben das Quartier offensichtlich gekannt. Dass der Terror importiert war, daran glaubt hier sowieso fast niemand, und die Newsmeldungen bestätigen das: Die meisten Täter waren Pariser. Das macht die Verunsicherung nur noch grösser.
Bereits am Montag war in den Zeitungen zu lesen, dass Frankreich die seit September laufenden Luftangriffe auf Syrien verstärkt habe. Aber hier, in Hörweite der Schüsse vom Freitag, wo jede und jeder einen kennt, der am Freitag gestorben ist, in einer grundsätzlich eher alternativen oder linken Szene, in der die meisten sowieso nichts mit den französischen Bomben anfangen können, klingt das alles nun noch viel absurder und zynischer: Noch mehr Bomben für einen Kampf irgendwo in der Welt, während die eigene Gesellschaft auseinanderbricht. Die Täter stammen aus Frankreich. Oder aus Belgien. Müsste man, fragt ein Freund lakonisch, nicht eher Belgien bombardieren? Oder Teile von Paris? Denn was in den Meldungen untergeht: In Paris und selbst im Elften verkehren ja nicht nur Menschen, die Opfer kannten. Hier verkehren auch Leute, die Täter kannten.
Der Kommunist macht Ramadan
Das ist es, was die jungen Leute im 11. Bezirk seit längerem bewegt und zunehmend verstört: das Auseinanderdriften der eigenen Gesellschaft, begleitet von einer verstärkten Hinwendung zur Religion nicht irgendwo in Syrien, sondern hier in Paris, in der eigenen Community. Ein alter Kommunist macht plötzlich Ramadan. Die jungen Koksdealer an der Ecke Oberkampf und Ménilmontant, die noch mit 35 bei den Eltern wohnen, verkehren von einem Tag auf den anderen in Moscheen, die vom Geheimdienst überwacht werden (eine davon liegt ein paar Gehminuten von den Ausgehmeilen entfernt ebenfalls im 11. Arrondissement). Ein junger lokaler Antifaschist verschwindet in der radikalislamischen Szene, denn die Muslime seien die neuen Juden Europas, soll er gesagt haben, Pogrome nicht mehr fern. Man kann darüber lachen. Aber nach Lachen ist hier im Moment niemandem zumute. Und ein zu Staub gebombtes Syrien wird nichts an der Tatsache ändern, dass es junge Franzosen waren, die loszogen, um wahllos junge Franzosen und Französinnen zu töten.
Ein Essen am Sonntagabend in einem Chinaimbiss im 11. Arrondissement mit einem «Quartierpapa» endet abrupt: Am Handy die Information über einen Sonderkommandoeinsatz an der Metrostation Belleville. Bars, die verriegelt werden. Menschen, die in Kellern Schutz suchen. Innerhalb von ein paar Sekunden hat der Mann das Restaurant verlassen, zwei Minuten später steht er vor seiner Kneipe, eine geladene Waffe in der Innenseite der Jacke. Alarmstimmung. An der Place de la République stieben zur selben Zeit Menschen in Panik auseinander, weil jemand Feuerwerk gezündet hat. Die Pariser Psychose. So schnell geht das nicht wieder vorbei.
Wobei. Montagnacht am oberen Ende der Rue Oberkampf, bloss ein paar Minuten von den Anschlägen entfernt: Grossauflauf in einer alten, soliden linken Skinheadbar. Keine ausgebeulten Jacken vor der Tür, ein paar Tränen drinnen schon, denn auch hier kennen viele jemanden, der es nicht überlebt hat oder verletzt wurde. Aber keine Paranoia. The Pogues spielen ohrenbetäubend laut «Dirty Old Town», und die Leute saufen, als gäbe es ein Morgen.