Zum letzten Mal: Erinnerungen an die Seite 25
Lange Jahre fanden sich darauf Nachrufe, dann Irrtümer und schliesslich Jubiläen: Die Seite 25 der WOZ hat eine bewegte Geschichte hinter sich.
Erinnern ist überlebensnotwendig, fürs Individuum wie für die Gesellschaft. Aus der Vergangenheit lassen sich Antrieb und Kraft gewinnen, um sich persönlich zu stärken und um sozialen Widerstand zu leisten; was einmal war, eröffnet Vorstellungen davon, was nicht mehr sein oder was möglich werden soll.
Das öffentliche Erinnern an verstorbene Menschen beginnt mit dem Nachruf. Nachrufe sind eine eigene Textform: Wie persönlich darf es sein, wie sachlich, wie kritisch? In der WOZ fanden Nachrufe ihren Platz auf der Seite 25.
Die Seite war ursprünglich ein Kind der Krise im Jahr 2004. In ihrer Existenz bedroht, musste die WOZ kostengünstiger produzieren. So erschienen ab 2005 auf Seite 25 jede zweite Woche Sachbuchbesprechungen, verfasst von Redaktionsmitgliedern, also «kostenneutral». Jede zweite Woche war die Seite eine Mischseite. Da fanden sich das seit Urzeiten bestehende KreuzWOZ sowie die neuere Rubrik «Kost und Logis». Dazu eben die Nachrufe, auch «kostenneutral».
Der fixe Platz hatte einen Nachteil: Es konnte genau alle zwei Wochen genau einer Person auf einem genau bemessenen Raum gedacht werden. Zuweilen wurde um die Gedenkstätte gekämpft: War ein indigener Menschenrechtsaktivist ihrer mehr würdig als eine engagierte Filmemacherin? Zuweilen wurde krampfhaft nach jemandem gesucht, an die oder den man in eben dieser Woche erinnern sollte. Verstorbene aus dem Kulturbereich wurden doppelt so häufig gewürdigt wie politisch Engagierte: weil sie ein klar umrissenes Werk hinterliessen. Doch die Regelmässigkeit war ein Zwang. Einmal, als der Redaktion kein Mensch einfiel, dessen sie gedenken wollte, wurde das indische Cricket, das durch Kommerzialisierung erstickt wird, zu Grabe getragen.
Deshalb entschied die Redaktionskonferenz während einer sanften Renovation der WOZ, die fixe Nachrufeseite aufzuheben und das Angedenken den drei Ressorts Schweiz, International und Kultur in Eigenverantwortung zu übertragen. Die Stelle der Nachrufe füllte ab Anfang 2012 auf Seite 25 eine «Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer». Der Name war Programm: Alle zwei Wochen sollte kurz und konzis ein zeitgenössischer Irrtum widerlegt werden. Aufgeklärt wurde beispielsweise die irrige Meinung, der Klassenkampf sei veraltet oder auf verbindliche Regeln der Rechtschreibung könne verzichtet werden. Zertrümmert wurde das Vorurteil, Lateinamerika sei magisch oder Erziehungsratgeber hülfen geplagten Eltern weiter. Entlarvt wurde die Annahme, in der WOZ trügen alle Birkenstöcke und ässen Rohkost, die Kriminalstatistik bilde die Realität ab oder AbzockerInnen seien das alleinige Übel.
Mit der «Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer» knüpfte die Redaktion an eine hehre Tradition der Aufklärung an: aus der fremd- und selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien zu helfen. Das war durchaus auch ein Erinnerungsprogramm – eine Zusammenstellung aller 49 Beiträge ist im PDF-Format auf der WOZ-Website zu finden.
Danach folgten, hundert Jahre nach 1914, ein halbes Jahr lang Beiträge zum Ersten Weltkrieg, von kulturellen Auseinandersetzungen bis zu kaum bekannten Schauplätzen: über Serbien und den Nahen Osten oder Ostafrika, über die Zivilisationsbrüche bis zu den Auswirkungen auf die soziale Lage der Frauen. Das Jahr 2015, in der Schweiz politisch als Jubiläumsjahr instrumentalisiert, nahm die WOZ zum Anlass, Jubiläen der etwas anderen Art zu gedenken, vom Abschied der SP von der Diktatur des Proletariats über die Ermordung von Malcolm X, ein Massaker in El Salvador zu Beginn des Bürgerkriegs, einen Frauenstreik auf Island bis zur Erfindung des «Monopoly». Da wurde einer widerständigen Tradition erinnert.
Jetzt wird die Seite 25 als eigenständige Seite aufgehoben und in den erweiterten, ausgebauten, verbesserten Kulturteil integriert. Das KreuzWOZ und die Rubrik «Kost und Logis» werden weitergeführt. Sachbücher werden regelmässig im Kulturteil auftauchen. Doch es wird weiterhin gestorben, geirrt, jubiliert – so bleiben auch entsprechende Themen und Artikel erhalten. Denn Erinnern ist überlebensnotwendig.