Nestlé vor Gericht: «Bei Nestlé gehört es sich nicht, Kritik zu äussern»

Nr. 48 –

Yasmine Motarjemi war bei Néstle für die Nahrungsmittelsicherheit ­zuständig. Doch als die Kaderfrau Mängel aufdeckte und thematisierte, wurde sie vom Management gemobbt. Nun klagt Motarjemi gegen den Nahrungs­mittelkonzern. Nächste Woche beginnt in Lausanne der Prozess.

«Good food, good life». Der Nestlé-Slogan entlockt Yasmine Motarjemi nur mehr ein trockenes Lachen. Sie sitzt auf den weichen Sofakissen in ihrer sorgfältig eingerichteten Wohnung in Nyon und bildlich gesprochen auf einem Berg von Akten. Die zierliche Sechzigjährige legt sich mit den grossen Männern des weltweit grössten Nahrungsmittelkonzerns an: CEO Paul Bulcke, José Lopez, ehemaliger Generaldirektor für Konzernoperationen, Nespresso-CEO Jean-Marc Duvoisin, um nur drei zu nennen. Sie alle werden als Zeugen vorgeladen im Prozess, der am 1. Dezember vor dem Bezirksgericht Lausanne mit der Anhörung Yasmine Motarjemis beginnt. Es geht vorrangig um den Vorwurf massiven Mobbings. Aber auch um Nahrungsmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit. Motarjemi war bis 2010 selbst noch gut bezahlte Kaderfrau bei Nestlé. Was ist geschehen?

Der Kulturschock

Die gebürtige Iranerin Yasmine Motarjemi arbeitete seit zehn Jahren als Expertin für Nahrungsmittelsicherheit bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), als sie 2000 von Nestlé abgeworben wurde. «Nestlé war unglaublich hartnäckig», erinnert sie sich. «Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden. Es war, als würde ein Patient einen Doktor rufen. Und das fühlte sich gut an.» Sie wurde Head of Food Safety Management. Am Anfang war sie beeindruckt: der tolle Lohn, das technische Equipment in den Laboren, die Zusammenarbeit mit ExpertInnen aus aller Welt. Nach einigen Monaten kam jedoch der «Kulturschock», wie sie ihn nennt: «Bei Nestlé gehört es sich nicht, Kritik zu äussern, selbst wenn sie konstruktiv ist. Es gehört sich auch nicht, Probleme zu melden oder Handlungsweisen zu hinterfragen.» Genau dies war jedoch Kern ihrer Arbeit: das Management auf Lücken in der Nahrungsmittelsicherheit hinzuweisen und Ressourcen für deren Behebung zu fordern. Es ging um falsche Dosierungen von Vitaminen in Babynahrung, um giftige Tintenchemikalien, die von der Verpackung auf Lebensmittel abfärbten, um kontaminierte Milch, um Honig mit verbotenen Antibiotika.

Plötzlich Sekretärin

2002 hörte Motarjemi, dass Nestlé-Babybiskuits bei zwei Kleinkindern in Frankreich Erstickungsanfälle ausgelöst hatten. Erst auf hartnäckige Nachfrage erfuhr sie, dass es 38 weitere solche Fälle gab und der Konzern bereits seit einem Jahr davon wusste. Dennoch weigerte sich Nestlé, wie von Motarjemi verlangt, die Produktion zwischenzeitlich zu stoppen oder zumindest das Mindestalter für den Konsum heraufzusetzen. Erst nach zähen Verhandlungen erreichte sie, dass künftig eine andere Mehlsorte verwendet wurde.

«In den ersten Jahren waren die Herausforderungen vor allem professioneller und technischer Natur», sagt Yasmine Motarjemi. «Es war zwar jeweils schwierig, das Management von Verbesserungsvorschlägen zu überzeugen, doch meine Arbeit wurde geschätzt und ich erhielt gute Evaluationen.» Das änderte sich 2006. Motarjemi erhielt einen neuen Vorgesetzten, mit dem sie bereits wegen der Babybiskuits in Konflikt geraten war. Und mit ihm begann das Mobbing. Motarjemis Vorwürfe sind happig: Er diskreditierte sie vor KollegInnen, übertrug ihre Aufgaben an weniger qualifizierte MitarbeiterInnen, liess diese Motarjemis Forschungsergebnisse präsentieren, während sie selbst im Publikum sass, lud sie nicht zu Konferenzen ein, führte sie dann auf der TeilnehmerInnenliste bei den SekretärInnen auf. Sie wandte sich an die Personalabteilung, verlangte eine Evaluation ihrer Arbeit durch eine externe Stelle, schrieb gar an Nestlé-CEO Paul Bulcke. Niemand reagierte. Sie wurde kaltgestellt.

«Wenn eine Firma die Zuständige für Nahrungsmittelsicherheit mobbt und in ihrer Arbeit behindert, handelt es sich nicht mehr um einen Arbeitskonflikt, sondern um ein Risiko für die öffentliche Gesundheit», sagt Motarjemi.

Ein Franken als Wiedergutmachung

Durch einen Zufall erfuhr Motarjemi von ihrer geplanten Versetzung in ein Forschungszentrum. Sie wehrte sich auch dagegen und erhielt 2010 die Kündigung, wegen «unterschiedlicher Ansichten bezüglich Nahrungsmittelsicherheit», wie es im Kündigungsschreiben heisst. Nestlé bot ihr 300 000 Franken Abgangsentschädigung unter der Bedingung, dass Motarjemi keine weiteren Ansprüche geltend machen würde. Das Geld lehnte Yasmine Motarjemi ab.

Seit ihrer Kündigung lebt Motarjemi hauptsächlich von ihren Ersparnissen. Sie hält Vorträge über Whistleblowing und Nahrungsmittelsicherheit. Zu Letzterem hat sie seit ihrer Kündigung eine Enzyklopädie sowie ein preisgekröntes Fachbuch herausgegeben. Sie hält die dicken Bücher fest, als müsse sie sich auch selbst von ihrer Fachkompetenz überzeugen. Das Mobbing hat seine Spuren hinterlassen, Yasmine Motarjemi ist psychisch angeschlagen und erschöpft. Und dennoch ist sie froh, dass der Prozess endlich beginnt: «Es geht längst nicht mehr nur um Babybiskuits. Ich möchte vielmehr davor warnen, dass es auf globaler Ebene ein Vakuum gibt in der Kontrolle multinationaler Konzerne. Nur interessiert das kaum jemanden.» So sei ihre Arbeit in den zehn Jahren bei Nestlé nie von externer oder staatlicher Seite überprüft worden. Mit dem Prozess möchte Motarjemi aber auch auf das Mobbing und den psychischen Druck aufmerksam machen, dem viele Angestellte und insbesondere Whistleblower ausgesetzt sind: «Mobbing ist ein Verbrechen und eine Menschenrechtsverletzung, die viel mehr Aufmerksamkeit nötig hat.»

Von Nestlé fordert Motarjemi einen Franken als symbolische Wiedergutmachung für das Mobbing sowie zwei Millionen Franken für entgangenen Lohn und für Anwalts- und Arztkosten. Nestlé verlangte derweil erhöhte Sicherheitsvorkehrungen vom Gericht, da AktivistInnen am Prozess «Probleme bereiten» könnten.