Auf allen Kanälen: Sirene an Bord

Nr. 49 –

Zweimal hinsehen: Die Agitprop-Ikone M.I.A. führt mit ihrem neuen Musikclip «Borders» gängige Bilder und Vorstellungen zur Flüchtlingskrise ad absurdum.

M.I.A. «Borders»

Dunkelhäutige Menschen klettern Grenzzäune hoch. Wir sehen, wie sie über Felder rennen, durchs Meer waten und in übervollen Booten sitzen. Doch dies sind nicht die neusten Nachrichtenbilder. Es sind Szenen aus dem neuen Musikvideo der tamilisch-britischen Popsängerin Maya Arulpragasam, besser bekannt als M.I.A. Der Song heisst «Borders», und der Clip dazu soll unverkennbar als künstlerischer Kommentar zur Flüchtlingskrise verstanden werden.

Im Netz wurde der Clip gleich eifrig verlinkt, die Meinungen in den Onlinemedien waren auch schnell gemacht: «M.I.A. hebt nicht vorsichtig den moralischen Zeigefinger. Sie donnert uns die Faust rein», verkündete die «Süddeutsche». Etwas nachdenklicher klang es bei «Spiegel Online»: «Vielleicht ist dieser gespenstische, aber auch sehr aufwühlende Clip ja auch für andere Künstler aus dem bisher eher zurückhaltenden Popkosmos Anlass, sich über Benefizkonzerte hinaus in dieser Krise zu engagieren.» Gespenstisch, sehr aufwühlend, ein Faustschlag: Alles richtig, aber ein paar weitergehende Überlegungen zur Bildpolitik dieses Clips wären doch angebracht.

Wie Jesus auf dem Wasser

Zum Beispiel dazu, dass die Aktionen der Flüchtlinge – im Gegensatz zu den realen Vorbildern aus der Newsberichterstattung – hier streng choreografiert sind. Die Flüchtlinge werden in «Borders» zu menschlichen Ornamenten, die an die Musicals von Busby Berkeley erinnern. Mittendrin in diesem Reigen gebärdet sich M.I.A. als unbestrittene Zeremonienmeisterin. Während sich die Individualität ihrer ausnahmslos männlichen Komparsen in den choreografierten Menschenmustern immer wieder auflöst, bleibt ihr weiblicher Starkörper stets gut sichtbar von der Umgebung abgehoben. Das geht so weit, dass die Männer, in sandbraune Kapuzenmäntelchen gehüllt, ein grosses Schiff am Strand formen, während M.I.A. im knallorangen Overall die Galionsfigur und Sirene mimen darf. In einer anderen Szene läuft sie wie Jesus über das Wasser, umrahmt von Flüchtlingsbooten, die symmetrisch um sie herum arrangiert sind. Allerdings: Das Jesusleibchen, das sie dazu trägt, ironisiert die eigene Überheblichkeit in routinierter Popmanier. Darf M.I.A. das? Ist «Borders» nicht geschmacklos? Eine frivole Tanzbarmachung von tödlichem Elend oder schlicht der aufmerksamkeitsheischende «Heroin Chic» der Flüchtlingskrise?

Solidarität statt Tränen

Und überhaupt: Was soll an diesen massenhaften menschlichen Ornamenten politisch oder radikal sein? Ohne die augenfällig problematischen Aspekte von «Borders» wegreden zu wollen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn der hochartifizielle Clip der streitbaren Rapperin dreht sich ganz offensichtlich nicht primär um das Elend der Flüchtlinge.

Im Unterschied zu Popstarkollegen wie U2 oder Bob Geldof, die bei ihren humanitären Aktionen gern rührselige Refrains mit dokumentarischen Aufnahmen von weit aufgerissenen Kinderaugen und Tränen der Hilflosigkeit bebildern, geht es M.I.A. um eine Ermächtigung. Statt die «Ängste der Bevölkerung» ernst zu nehmen, entlarvt sie diese, indem sie sie ad absurdum führt. Denn ihre Boatpeople mögen zwar zuweilen wie eine etwas träge, aber stoische Manövriermasse des Popgeschmacks wirken. Gleichzeitig erinnern die landenden Boote an die Invasion der US-Truppen am D-Day, in der sich Angst und Hoffnung überlagern. Auch die Choreografie der Körper gemahnt teilweise an eine militärische Trainingsordnung.

Und dann ist da noch der Text. Nachdem M.I.A. im Clip zu ihrem Song «Born Free» schon mal rassistische Mechanismen brutal treffend mit einer tödlichen Hetzjagd auf Rothaarige illustrieren liess, haut sie uns in «Borders» nun unsere eigenen Privilegien und Verlogenheiten um die Ohren: «Borders, Politics, Identities, Police Shots, Your Privilege … What’s up with that?» – Grenzen, Politik, Identitäten, Polizeischüsse, deine Privilegien … Was ist damit?

Auch die Schlussszene lässt aufmerken. Der Popstar mit dem «instinktiven Gespür für Provokationen», wie die «New York Times» schrieb, hat das Set verlassen. Die Komparsen stampfen in einer wackligen Einerkolonne ins Meer hinaus, um nachher als Schwarm wieder an Land zu gehen. Der Clip lässt uns also zum Schluss hinter die Kulissen seiner perfekten Choreografie blicken. Und hebelt sie so ein Stück weit gleich wieder aus.