Kulturkampf in Glastonbury: Mit echten Gitarren gegen den falschen Rapper
Eine Petition will den Auftritt von Kanye West am Glastonbury-Musikfestival in Britannien verhindern. Damit wird die Legende fortgestrickt, beim Rock handle es sich um eine weisse Musik.
Patrioten Englands gegen die Invasion der Afroamerikaner? Nein, ganz so weit ist es noch nicht. Einstweilen haben britische Rockfans nur einen einzigen Afroamerikaner im Visier. Sein Name ist Kanye West. Mit einer Onlinepetition soll verhindert werden, dass der schwarze Produzent und Rapper in diesem Jahr als Headliner in Glastonbury auftritt. Das «Festival of Contemporary Performing Arts» im englischen Südwesten fand 1970 zum ersten Mal statt, noch ganz im Hippiespirit. Inzwischen ist es eines der grössten Rockfestivals der Welt, an die 200 000 Leute pilgern Ende Juni jeweils für drei Tage auf die Farm des Milchbauern Michael Eavis, der sich die künstlerische Leitung des Festivals seit 1999 mit seiner Tochter Emily teilt.
Einig im Schlamm
Wer kommt nach Glastonbury? Wer wird Headliner? Alle Jahre wieder werden diese Fragen mit Inbrunst diskutiert. Wer also wird diesmal die Nachfolge von Neil Young, Bruce Springsteen, U2, The Who und den Rolling Stones antreten, alles Headliner der vergangenen Jahre? Zugegeben, es waren nicht nur weisse Männer im Rentenalter: 2010 trat Stevie Wonder auf, ein Jahr später Beyoncé. Nun also Kanye West. «Erteilt Kanye West eine Absage und bucht eine Rockband!» Das fordert eine Petition, die ein gewisser Neil Lonsdale ins Leben gerufen hat. Pro Tag unterschreiben bis zu 20 000 Personen, bis zum Redaktionsschluss waren es 132 643.
Manche Unterzeichner nennen Kanye West «cunt» (Fotze) oder «gay fish», andere werden grundsätzlich: «Glastonbury ist für klassische Rockbands gedacht, nicht für derartige Hip-Hop-Künstler», schreibt Eleanor Head aus Kent und erklärt, dass ein «frauenverachtendes, selbstsüchtiges, rassistisches und arrogantes Wesen wie Kanye West» dort fehl am Platz sei.
Der Rassismusvorwurf ist bemerkenswert, ist West doch einer der wenigen schwarzen Superstars, die ihre Popularität zu politischen Interventionen nutzen. «George Bush interessiert sich nicht für Schwarze», schrie West 2005 bei einem Benefizkonzert für die Opfer des Hurrikans Katrina: «Die Regierung versucht den Schwarzen so langsam wie möglich zu helfen, je ärmer sie sind, desto langsamer.» In den vergangenen Monaten kritisierte West bei spektakulären Auftritten mehrfach die tödlichen Übergriffe weisser Polizisten gegen schwarze Männer in den USA.
Offenbar spielt die Hautfarbe auch beim Kulturkampf um Glastonbury eine Rolle. «Ich bin zwar kein Rassist, aber …» Mit diesen Worten beginnt ein vielsagendes Statement zur Petition. «… Glastonbury ist ein weisses Festival für echte Musik auf echten Gitarren von echten Jungs in echten Jeans für echte Leute, die echte Chöre singen, echtes Bier trinken und in echtem Schlamm stehen.» Ganz schön viel «Realness» also. Da wird mal wieder die Authentizitätskarte gespielt und ein Gegenbild gezeichnet zu den Hip-Hop-Künstlern mit ihrem neumodischen, künstlichen Sampling und anderem Schnickschnack.
Um solche Simplifizierungen auszuhebeln, hat sich die Discokultur selbst schon immer als «real» verstanden. Gleich drei Discoklassiker tragen das Wort im Titel: «Real people» von Chic, «Got to be real» von Cheryl Lynn und «You make me feel mighty real» von Sylvester, der Gay Black Diva, gecovert von Jimmy Somerville. Sie verorten die Realness unter der Discokugel: Nur dort, an diesem geschützten Ort, können wir echt sein, sagen diese Songs. Wir, die Nichtmänner, die Nichtweissen, die Nichtheteros, die Uneindeutigen. Wie seine Enkelin, die House Music, war Disco der Soundtrack derjenigen, die que(e)r stehen zur weissen, heterosexuellen Norm.
Treppenwitz erster Güte
Die Ablehnung der Künstlichkeit konnte in der Musikgeschichte auch schon in offene Aggression umschlagen, so 1979 bei der Disco Demolition Night. Im Vorprogramm eines Baseballspiels der Chicago White Sox im Comiskey Park türmten aufgeheizte Rockfans Tausende von Discoplatten zu einem Scheiterhaufen und brachten das Ganze zur Explosion. Vielleicht gibt es ja ein Déjà-vu diesen Sommer in England.
Glastonbury sei ein weisses Festival, behaupten die Anti-West-AktivistInnen – es ist der Tenor einer Bewegung, die Rock als genuin weisse Musik für sich beansprucht. Ein geschichtsrevisionistischer Treppenwitz erster Güte, wenn man nur einmal bedenkt, was etwa die Rolling Stones der Musik des schwarzen Amerika zu verdanken haben. So ziemlich alles, Bandname inklusive: Der stammt aus einem Song von Muddy Waters.