Clipkultur: Die Schleusen zum digitalen Nirwana
Die Kurzfilmtage in Oberhausen zeigen: Musikvideos sind nach dem Ende des Musikfernsehens nicht einfach ins Netz abgewandert. Sie werden jetzt selber internetförmig.
Da gehst du ins Kino, aber dort erwartet dich wieder nur: das Internet!
Wir sehen nichts als die Google-Startseite, sie nimmt die ganze Leinwand ein. Dann fängt Cee-Lo Green zu singen an, und wie von selbst füllt sich jetzt die Suchmaske in Echtzeit mit den Worten, die er gerade singt. Rasend schnell geht das: Ganz kurz nur sehen wir jeweils die entsprechende Ergebnisliste, dann füllt sich das Suchfeld schon wieder mit den nächsten Suchbegriffen. Der Songtext wird so zum reinen Stichwortgeber für eine simulierte Google-Suche. Ist das überhaupt noch ein Film oder bloss eine Benutzeroberfläche, die wie von Geisterhand bespielt wird?
Der Song heisst «Robin Williams», und das dazugehörige Musikvideo des israelischen Regisseurs Vania Heymann gibts auch in einer interaktiven Version, bei der man zwischen verschiedenen Suchoptionen hin und her wechseln kann. Dabei ist dieser Clip bloss das augenscheinlichste Beispiel dafür, dass das Musikvideo seit dem Ende des klassischen Musikfernsehens mehr als nur den Kanal gewechselt hat. Musikvideos sind nicht einfach ins Netz abgewandert oder von diesem aufgesogen worden, sondern sie reflektieren dort immer offensiver ihre neue Umgebung, werden gewissermassen selber internetförmig.
Zufallsgenerator für Musikvideos
An den Kurzfilmtagen in Oberhausen – vor achtzehn Jahren das erste Festival weltweit, das einen Wettbewerb eigens für Musikvideos eingeführt hat – gabs nun eine ganze Reihe von Clips zu sehen, die das Web mehr oder weniger explizit zum Thema machen. Das gehobene, oft schick aufgemachte Musikvideo mit Kunstanspruch ist deswegen nicht ausgestorben. Man muss sich nur mal «Voodoo in My Blood» ansehen, einen von drei Kurzfilmen zum jüngsten Minialbum von Massive Attack, mit Stars wie Kate Moss oder der Schauspielerin Rosamund Pike.
Letztere erlebt in «Voodoo in My Blood» eine unheimliche Begegnung der dritten Art: Da schreitet sie allein durch eine Unterführung, wo ihr plötzlich eine metallisch glänzende, frei schwebende Kugel den Weg versperrt. Angesichts dieser herrischen Lustkugel wird die Frau, wie besessen, zum willfährig zuckenden Körper – eine ebenso verstörende wie aufreizende Hommage an den Kultfilm «Possession» von Andrzej Zulawski. Hier ist das klassische Kino also noch die Referenzgrösse, aus der das Musikvideo seine visuelle Fantasie speist. Daneben aber spielen immer mehr Clips mit allen möglichen Codes der Netzkultur, und längst nicht alle tun das auf so bestechend niederschwellige Weise wie das Google-Video von Cee-Lo Green.
Wenn etwa die britische Sängerin Emmy the Great im Song «Algorithm» über die Liebe in Zeiten von Dating-Apps wie Tinder sinniert, wirkt der dazugehörige Clip von Regisseur Daniel Swan seinerseits wie von einem anonymen Algorithmus zusammengestellt. Die Sängerin selber ist im Video nicht zu sehen, da ist nur ein neutraler Bildschirmhintergrund mit zwei gleich grossen Bildflächen nebeneinander, auf denen scheinbar völlig beliebig irgendwelche filmischen Impressionen ablaufen. Dazu werden zusammenhangslose Sätze eingeblendet, wie aus einem Drehbuch für ein spektakuläres Musikvideo, das wir uns selber dazudenken müssen. Etwa: «Eine stillgelegte Mine fängt an zu weinen und wird vom TV-Bildschirm umarmt und getröstet.» Eine Persiflage, in der die assoziative Beliebigkeit unzähliger Musikvideos gnadenlos ad absurdum geführt wird. Und wer das noch weiterspielen will, findet auf der Website von Emmy the Great einen einfachen Zufallsgenerator, der Plots für weitere solche Nonsensvideos dichtet.
Ein tierischer Albtraum
Um einiges grotesker geht es zur Sache, wenn der britische Regisseur Cyriak in digitalen Bildwelten wildert. Für das US-Rapduo Run the Jewels hat er am Computer ein wirklich abartiges Büsivideo animiert. «Meowpurrdy» heisst dieses Bestiarium, eine monströs pelzige Orgie aus herzigen Katzen, die fortwährend mutieren. Die Kuscheltiere wuchern dabei zu bösen siamesischen Fabelwesen, denen aus den Ohren und aus dem Rachen laufend neue Köpfe wachsen. Es ist ein tierischer Albtraum wie aus einem Genlabor des Grauens – das Katzenvideo, das allen Katzenvideos der grossen weiten Internetwelt den Garaus macht.
Da war es nur folgerichtig, dass der Preis für das beste deutsche Musikvideo in Oberhausen an einen Clip ging, der die Schleusen zum digitalen Nirwana sperrangelweit öffnete. Zu einem frenetischen Electrotrack von Drunken Masters feat. Tropkillaz zeigt Regisseur Andreas Hofstetter in «All Day» eine kleine Alice, die sich am Computer durch ein Wunderland des digitalen Irrsinns klickt. Eigentlich ist ja Schlafenszeit, aber kaum ist die Mutter zur Tür hinaus, springt das Mädchen aus dem Bett und holt sich am Rechner ein psychedelisches Pixelgewitter ins Zimmer, in dem sie dann hüpft und tanzt wie eine Besessene. Danach ist man reif für einen Schuss Ritalin. Oder für die kontemplative Leere der Google-Startseite.
WOZ-Redaktor Florian Keller war als Mitglied der Jury des Deutschen Wettbewerbs in Oberhausen.