Abstimmung vom 28. Februar 2016: Der Angriff auf die Jugend

Nr. 51 –

Von wegen Durchsetzung! Es geht der SVP um die Entrechtung von zwei Millionen Menschen, insbesondere von jungen Erwachsenen. Diese Initiative muss entschieden bekämpft werden.

Die Abstimmung vom 28. Februar 2016 ist angesichts ihrer Konsequenzen eine der gravierendsten in der Schweiz seit Jahrzehnten. Die «Durchsetzungsinitiative» der SVP bezweckt die Entrechtung eines Viertels der Wohnbevölkerung, im Speziellen der Secondas und Secondos. Sie ist ein Angriff auf den demokratischen Rechtsstaat und die Gewaltenteilung. Und sie legt die Lunte für den Versuch, die Schweiz aus dem Schutzsystem der Menschenrechte herauszusprengen.

Wenn die anderen Parteien noch vorsichtig schweigen und die Wirtschaftsverbände bis jetzt keine Aufklärung finanzieren wollen, heisst das nicht, dass die Initiative nicht von enormer Tragweite wäre. Im Gegenteil macht das Zögern und Zaudern die Situation umso alarmierender.

Die Gefährlichkeit der Initiative ist nicht auf den ersten Blick erkennbar. Die SVP und ihre Marketingagentur haben den bürokratischen Namen wie immer schlau ausgewählt: «Durchsetzungsinitiative». Das tönt nicht nach einer neuen Forderung, sondern nach einer alten, der bloss Nachdruck verschafft werden soll.

Abwägung statt Automatismus

Die alte Forderung war die «Ausschaffungsinitiative», die 2010 von der Stimmbevölkerung angenommen wurde. Das Plakat dazu, mit dem die SVP europaweit bekannt wurde, zeigte weisse Schafe, die ein schwarzes aus dem Land kicken. Die Initiative forderte, dass AusländerInnen nicht nur bestraft werden, sondern zusätzlich das Land verlassen müssen, wenn sie eine bestimmte, zumeist schwere Straftat begehen: Dazu zählten vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung, aber auch der sogenannte Sozialhilfemissbrauch. Angesichts der Doppelbestrafung, die sich gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe richtet, darf man zu Recht von einer Sonderjustiz sprechen.

Wegen ihres Automatismus kollidierte bereits die «Ausschaffungsinitiative» mit einem der wichtigsten Grundsätze einer modernen Verfassung: dem Verhältnismässigkeitsprinzip. Es verlangt das Abwägen von Massnahmen im öffentlichen Interesse gegenüber Einschnitten in private Grundrechte und Interessen. Nach jahrelangen Beratungen gelang es dem Parlament auf Vorschlag des Ständerats, die Initiative verfassungs- und völkerrechtskonform umzusetzen – sodass das Verhältnismässigkeitsprinzip und Menschenrechte wie das Recht auf ein Familienleben garantiert bleiben. Es führte eine Klausel ein, nach der die Gerichte ausnahmsweise von einem Landesverweis absehen können, wenn sie für den Ausländer, die Ausländerin einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde. «Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind», heisst es zum Schutz von Secondos und Secondas vor einer Ausschaffung.

Secondos und Secondas im Visier

Die SVP rollte ihre Drohkulisse trotz der beschlossenen Umsetzung nicht ein, weil die neue Initiative eben viel weiter geht. Sie weitet den Deliktkatalog deutlich aus: So muss zum Beispiel ein junger Erwachsener bereits ausgeschafft werden, wenn er mit seinen KollegInnen nach der Feier zum bestandenen Lehrabschluss in einen Tankstellenshop einbricht und dort ein paar Flaschen Alkohol mitlaufen lässt. Die Initiative führt zudem eine «Second Strike»-Regel ein: Ist eine Person vorbestraft, sei es auch nur mit einer Geldstrafe, und begeht sie innerhalb von zehn Jahren ein zweites Delikt, wird sie ebenfalls ausgeschafft: Ein junger Erwachsener, der einmal angetrunken Auto fährt und später in eine Schlägerei gerät, soll ebenfalls ausgeschafft werden.

Der Deliktkatalog macht deutlich, worauf die Initiative abzielt: auf die Hunderttausende von Secondos und Secondas, die in diesem Land aufwachsen. Begehen sie in der abenteuerlichen Zeit des Erwachsenwerdens irgendeine Dummheit, kommen sie nur schon minim mit dem Gesetz in Berührung, besteht für sie das Risiko einer Ausweisung. Dabei wird der elementare Grundsatz der Rechtsgleichheit verletzt: Die Schweizer AlterskollegInnen kommen im Fall des Tankstelleneinbruchs mit einer Geldstrafe davon.

Gesetze wirken bekanntlich nicht nur bei ihrer Anwendung, sondern bereits vorher im Kopf: Alle jungen Erwachsenen ohne Schweizer Pass werden in ein Leben mit Angst und Sorge gestürzt, dass sie bei der kleinsten Abweichung in ein Land ausgewiesen werden, in dem sie selbst gar nicht aufgewachsen sind. Und nicht nur sie werden von dieser Angst betroffen sein, sondern auch ihre Eltern, ihre Freundinnen und Kollegen.

Der Deliktkatalog ist auf junge Erwachsene ausgerichtet, aber längst nicht nur. Auch gut verdienende Expats oder Fachleute, die ihre Pensionskasse um mehr als 300 Franken schädigen, verlieren automatisch ihr Aufenthaltsrecht.

Zwei Millionen Menschen in der Schweiz werden unter Generalverdacht gestellt. Angegriffen werden: Schüler und Studentinnen. Angegriffen werden auch: Angestellte von der Reinigung bis zum Chefarzt ohne Schweizer Pass, die jeden dritten in der Schweiz verdienten Franken erwirtschaften – oder um es mit den Liberalen zu sagen: das Erfolgsmodell Schweiz. Weiter werden angegriffen: der Kebabladen, das Stadttheater, die Fussballnationalmannschaft – und damit die Treffpunkte und Symbole eines selbstverständlichen, vielfältigen Zusammenlebens im 21. Jahrhundert.

Das Wohl der Schwachen

Angegriffen wird schliesslich der demokratische Rechtsstaat. Denn die Initiative erweitert den Deliktkatalog nicht nur bis zu Bagatelldelikten, sondern ist auch in der Absicht formuliert, eine allfällige Härtefallklausel zu verhindern. Während eine Initiative normalerweise eine Verfassungsbestimmung vorschlägt, deren Ausführungsgesetz nachher das Parlament beschliesst, schreibt diese Initiative ihre eigene Umsetzung bereits seitenweise auf Verfassungsebene fest. Gemäss Eigendeklaration soll sie direkt anwendbar sein. Dem Parlament als gesetzgebender Gewalt würden die Hände gebunden. Und die RichterInnen als rechtsprechende Gewalt würden zu Urteilsautomaten degradiert. Egal ob jemand selbst angebautes Marihuana verkauft oder einen Mord begeht, die RichterInnen müssten das immergleiche Urteil fällen, ohne im Einzelfall abwägen zu können: Raus! Ein historisch einmaliger Vorgang, mit der Legislative und der Judikative die Gewaltenteilung auszuhebeln – betrieben ausgerechnet von der Partei, die in ihrem Selbstverständnis ganz allein die Fahne dieses Landes hochhält.

Eingeschränkt werden auch die Rekursrechte der Betroffenen. Wer geltend macht, dass er nach einer Ausschaffung an Leib und Leben bedroht ist, kann nur bis zu einem kantonalen Gericht, nicht bis zum Bundesgericht rekurrieren können. Das Landesrecht soll dem nicht zwingenden Völkerrecht vorgehen. Für den Fall, dass Betroffene sich das nicht gefallen lassen und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg anrufen, hat die SVP in ihrer Logik bereits eine dritte Initiative lanciert: Sie will die Teilhabe der Schweiz an der Europäischen Menschenrechtskonvention aufkündigen. Und damit das System, das nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zum Schutz des Einzelnen vor staatlicher Herrschaft und Willkür eingeführt wurde.

Man kann sich wirklich fragen, warum die UnternehmerInnen, für die Rechtssicherheit in diesem Land auch zur Geschäftsgrundlage gehört, nicht nervöser sind.

Und man soll sich daran erinnern, dass Gesetze nicht nur auf die Betroffenen wirken, sondern auch auf jene zurückschlagen, die sie nur beschliessen und sich selbst davon ausnehmen. «Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen», heisst es in der Präambel der Bundesverfasssung. Die Schweiz würde ihrem Rechtsstaat mit der Entrechtung von Millionen einen kaum reparablen Schaden zufügen – just in einer Zeit, in der aus einer späten Einsicht heraus das Schicksal der Entrechteten des 20. Jahrhunderts – der Verdingkinder und der Zwangsversorgten – aufgearbeitet wird.

Es geht am 28. Februar 2016 nicht um die Durchsetzung des Volkswillens, auch wenn uns das die Partei mit ihren unbeschränkten Millionen aus Herrliberg in die Köpfe hämmern wird. Bezeichnen wir die Vorlage als das, was sie ist: als Entrechtungsinitiative. Noch bleiben knappe zehn Wochen Zeit für ihre Bekämpfung.