Atomkraftwerke: «Schleunigst sanieren oder Konkurs anmelden»

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Die beiden Betreiber der Atomkraftwerke Gösgen und Leibstadt haben ihre Bilanzen frisiert. Das zeigt ein unabhängiger Finanzexperte. Wird eine neue Bilanzierungsmethode etwas ändern?

Der unabhängige Basler Finanzexperte Kaspar Müller kritisiert seit langem, dass die Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) AG und die Kernkraftwerk Gösgen-Däniken (KKG) AG mit ihren Bilanzen tricksen. Es geht dabei vor allem um die Mittel, die sie heute schon für den Rückbau der Kraftwerke und die Entsorgung des anfallenden Atommülls zurücklegen müssen. Würden die beiden Unternehmen ihre Bilanzen nicht frisieren, müssten die Verwaltungsräte gemäss Gesetz die Atomkraftwerke finanziell sanieren, sagt Müller.

Vor Weihnachten haben die KKL AG und die KKG AG mitgeteilt, sie würden nun – wie Müller stets gefordert hat – die Bilanzierungsmethode ändern. In ihrer Medienmitteilung schreiben sie, man werde «zu einer Bewertung auf Basis von Marktwerten wechseln, da diese Methode verbreiteter und daher einfacher verständlich» sei.

WOZ: Herr Müller, jetzt haben Sie endlich recht bekommen. Sind Sie zufrieden?
Kaspar Müller: Der Entscheid ist ein Schritt in die richtige Richtung, das ist toll! Aber die Begründungen, die die beiden Unternehmen liefern, sind beunruhigend und in diversen Punkten nicht unmittelbar nachvollziehbar. Zum Beispiel meint die KKL AG, die neue Rechnungslegung habe keinen Einfluss auf das Eigenkapital. Wie sie das bewerkstelligen, wird sich erst abschliessend beurteilen lassen, wenn die Bilanzen und Erfolgsrechnungen 2015 vorliegen. Die Erfahrung lehrt uns, dass Kernkraftwerkbetreiber und ihre Revisoren sehr kreativ sein können.

Die AKW-Betreiber argumentieren, dass die bisherige Methode korrekt und zulässig sei – dass sie sich nun aber entschieden hätten, die neue, einfachere Methode anzuwenden.
Das Argument ist schlicht falsch – die Methode, die sie bis jetzt angewendet haben, war illegal und hat gegen das Obligationenrecht (OR) verstossen! Die bisherige Praxis erfüllt den Tatbestand der Urkundenfälschung. Das kann man nicht einfach so aus der Welt reden.

Können Sie erklären, wie die AKW-Betreiber ihre Bilanzen frisiert haben?
Es gab mehrere gravierende Fehler. Einer betrifft die Wertschriften im Stilllegungs- respektive im Entsorgungsfonds, die in den Bilanzen falsch bewertet wurden. Die KKG AG und die KKL AG setzten nicht den realen Marktwert ein, sondern einen hypothetischen, wesentlich höheren Wert, der theoretisch einmal an der Börse erzielt werden sollte. Das ist illegal, das Obligationenrecht lässt das nicht zu. Bei den AKWs Beznau und Mühleberg wird es korrekt gemacht. Da waren dieselben Revisionsfirmen involviert, sie müssen also gewusst haben, dass die Buchführung von Leibstadt und Gösgen gegen das Gesetz verstösst.

Kaspar Müller

Zudem führen beide Aktiengesellschaften die Kosten für Nachbetrieb, Stilllegung und Entsorgung als Aktiva in den Bilanzen – auch das ist nach OR klar nicht zulässig. Damit verschleiern sie die wirtschaftlich desolate Situation, in der die Unternehmen stecken.

Jetzt hören aber Leibstadt wie Gösgen mit der falschen Bilanzierung auf?
Nur was die Bewertung der Fonds anbelangt. Bei den aktivierten Kosten ist noch keine Bewegung auszumachen. So ist es jedenfalls angekündigt.

Welche Beträge würden denn fehlen, wenn sie korrekt bilanzieren würden?
Bei der KKL AG wie bei der KKG AG geht es – basierend auf der Bilanz per Ende 2014 – um je mehr als eine halbe Milliarde Franken, die sie falsch in der Rechnung führen. Derweil Leibstadt nur ein Eigenkapital von 511 Millionen Franken ausweist und Gösgen gar nur eines von 351 Millionen Franken.

Heisst das, wenn sie sauber rechnen würden, hätten sie kein Eigenkapital mehr?
Ja. Nach dem Gesetz müsste deshalb der Verwaltungsrat Konkurs anmelden oder schleunigst sanieren. Dann müssen die Aktionäre, also die Kantonsregierungen, sagen: Liebe Steuerzahler, wir müssen die beiden AKWs mit je rund einer halben Milliarde neuem Kapital ausstatten. Das nenne ich finanzielle Nachrüstung. Das wollen sie aber nicht.

Warum interveniert niemand?
Weil es stets tabuisiert wurde. Die Revisionsbranche hat sich nie öffentlich zur rechtswidrigen Praxis geäussert, obwohl der Fall bekannt ist. Auch jetzt wird noch behauptet, beide Methoden seien korrekt. Das schadet dem Ruf der Branche, aber niemand will sich exponieren. Die Professoren, die an den Universitäten Rechnungslegung lehren, haben ebenfalls immer geschwiegen. Eine Anzeige, die Greenpeace und der Trinationale Atomschutzverband (Tras) gegen Gösgen und Leibstadt eingereicht haben, brachte bisher nichts.

Wie ging das aus?
Die Reaktion der Solothurner Staatsanwaltschaft auf die Anzeige gegen Gösgen war absolut unverständlich. Sie schrieb in der Einstellungsverfügung, «das Eigenkapital von Gösgen wäre damals zu beinahe achtzig Prozent aufgebraucht gewesen», wenn man korrekt rechnen würde. Sie räumte ein, «Sanierungsmassnahmen wären unumgänglich gewesen». Sie teilte also die Analyse der Kläger, schob dann aber nach: «Da es sich jedoch ausschliesslich um Buchverluste gehandelt hat und insbesondere die Liquidität der Unternehmung nicht tangiert war, machen die vom Obligationenrecht vorgesehenen Sanierungsmassnahmen schlicht keinen Sinn.»

Deshalb wurde das Verfahren eingestellt. Unglaublich! Das ist, wie wenn jemand mit hundert Stundenkilometern durch ein Dorf fährt, weil er es eilig hat. Die Polizei erwischt ihn, doch danach heisst es, dass das Gesetz in diesem Fall nicht anzuwenden sei, weil er sonst ja zu spät gekommen wäre. Es obliegt nicht der Staatsanwaltschaft, das Gesetz zu interpretieren – sie muss es anwenden. Die Einstellungsverfügung der Aargauer Staatsanwaltschaft bezüglich Leibstadt war übrigens identisch.

Ist damit der juristische Weg verbaut?
Nein, denn aufgrund einer Aufsichtsbeschwerde von Greenpeace und Tras führen ausserordentliche Staatsanwälte der beiden Kantone in dieser Angelegenheit immer noch Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung, Amtsmissbrauch und Begünstigung. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.

Warum bewegt sich nun doch etwas bei Gösgen und Leibstadt? Warum gerade jetzt?
Es hängt wohl damit zusammen, dass entweder die Revisionsaufsichtsbehörde Druck auf die Revisionsfirmen gemacht hat. Oder die Revisionsfirmen, die die Gesetzesverstösse bisher abgesegnet hatten, haben eingesehen, dass ihr Handeln illegal ist und sie damit die Urkundenfälschung begünstigen. Zudem hat etwa Alpiq seit kurzem eine neue Führung, die möglicherweise gemerkt hat, dass der alte Zustand inakzeptabel ist und sie diesen sofort korrigieren muss, bevor sie mitverantwortlich wird.

Was müsste man fordern?
Ähnlich wie bei den Grossbanken bräuchte es schärfere Eigenkapitalvorschriften. Nur wenn die AKWs finanziell solide dastehen, gibt es genügend Sicherheit, dass sie später bei der Entsorgung auch ihre Zahlungsverpflichtungen einhalten können.

Wie sieht es heute denn mit dem Eigenkapital aus, und wie hoch müsste es sein?
Heute haben sie – inklusive nicht OR-konformer Aktiva – ein Eigenkapital von nur zehn bis zwölf Prozent. Es bräuchte aber ein Eigenkapital von mindestens vierzig Prozent der Bilanzsumme, und zwar korrekt gerechnet auf die effektiven und verwertbaren Aktiven. Würden sich die Kantonsregierungen daran orientieren, müssten sie bei beiden AKWs gar gegen eine Milliarde Franken einschiessen.

Von niemandem bezahlt

Der unabhängige Ökonom und Finanzmarktexperte Kaspar Müller (63) lebt in Basel und amtete bis Mitte 2015 als Präsident der Stiftung Ethos Genf. 1991 bis 2012 war er Mitglied der Fachkommission Swiss GAAP FER, die sich mit den Fragen korrekter Bilanzierung beschäftigt.

Vor einigen Jahren verglich Müller im Auftrag der EU die verschiedenen AKW-Entsorgungs- und Stilllegungsfonds der EU-Länder. Danach schaute er sich die Jahresberichte der AKWs Leibstadt und Gösgen genauer an und konnte die Zahlen nicht nachvollziehen. Deshalb begann er, sich vertieft in die Materie einzuarbeiten.

Müller betont, er sei für diese Arbeit von niemandem bezahlt worden, er beschäftige sich als Privatperson damit, weil er verstehen wolle, was da vor sich gehe.