Durch den Monat mit Bülent Kaya (Teil 4): Droht eine neue faschistische Ära in Europa?
Bülent Kaya, der einst selbst aus der Türkei in die Schweiz flüchtete, spricht über die Migrationspolitik, den türkischen EU-Beitritt, seinen Besuch am Wef und die grassierende Islamfeindlichkeit.
WOZ: Herr Kaya, letzte Woche fand das 46. Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos statt. Sie selbst reisten vor dreissig Jahren ans Wef, um dem Premierminister der Türkei, Turgut Özal, eine Petition zu übergeben. Wie lief das ab?
Bülent Kaya: Wir gingen zu zweit an eine Cocktailparty von Özal. Ich sollte Fotos machen und hatte deswegen eine Akkreditierung der WOZ erhalten, zur Absicherung. Özal wurde rot, als meine Begleiterin ihm die Protestunterschriften gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen in der Türkei übergab. Es kamen dann zwei Bodyguards auf uns zu.
Wie verhielten sie sich?
Sie warfen uns raus, obwohl ich ihnen den Presseausweis zeigte. Dreissig Jahre nach diesem Protest sieht es mit den Menschenrechten und der Demokratie in der Türkei nicht besser aus. Trotzdem gibt es Annäherungsversuche der EU.
Etwa das Migrationsabkommen vom 29. November 2015. Die EU hat der Türkei drei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um Flüchtlinge im Land zu behalten. Was denken Sie zwei Monate später über die Auswirkungen?
Nach wie vor kommen viele Flüchtlinge nach Europa, auch wenn es Versuche der Türkei gibt, diese Ausreise polizeilich zu verhindern. Doch obwohl es äusserst schwierig ist, gibt es immer Möglichkeiten, die Türkei zu verlassen. Solange die Arbeitslosigkeit in der Türkei zwanzig Prozent beträgt, werden diese Menschen weiterziehen. Sie finden keine Arbeit, da nützt es auch nichts, dass sie inzwischen in der Türkei arbeiten dürften.
Wieso ist die EU so sehr an einer Zusammenarbeit mit der Türkei interessiert?
Die EU-Länder möchten vor allem für die eigene Bevölkerung das Signal aussenden: Wir geben alles, um die Weiterreise der Flüchtlinge zu verhindern. Die Türkei kann aber die Weiterreise der Flüchtlinge gar nicht stoppen, und sie will es auch nicht. Die ganze Asylpolitik wirkt für mich manchmal so, als ob die flüchtenden Menschen, die schon genug gelitten haben, nun noch mehr leiden sollten. Dabei sind viele Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Früher war die Flucht eine Reise zur Hoffnung, heute oft in den Tod.
Das Abkommen soll auch die Verhandlungen über einen türkischen EU-Beitritt wieder in Gang bringen.
Die Türkei ist weit entfernt von der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, die eine Voraussetzung für die Vollmitgliedschaft in der EU ist. Meiner Meinung nach zeigte die Türkei nie wirklich den Willen, Vollmitglied zu werden. Die Menschenrechtslage hat sich in den letzten Jahren verschlechtert, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, insbesondere in den kurdischen Gebieten, wo der Zugang zu grundlegenden Gütern wie Essen, Wasser und Gesundheitsversorgung durch die staatlichen Ausgangssperren verunmöglicht wird. Dass die EU auf die Türkei zugeht, zeigt, dass sie die Realpolitik wichtiger nimmt als die eigenen Werte.
Es gibt kaum kritische Stimmen aus der EU zum aktuellen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung. Hingegen werden Intellektuelle, die eine Erklärung gegen diesen Krieg unterschreiben, von den türkischen Behörden verfolgt.
Dieser Angriff auf die Unterzeichner ist schlimmer als jener während des Putschs 1980, als auch schon Intellektuelle gegen die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei protestierten. Denn diesmal steht sogar eine physische Drohung im Raum: Der Mafiaboss Sedat Peker rief öffentlich dazu auf, das Blut dieser Intellektuellen zu vergiessen. Die Türkei steht aber nicht alleine da. Innerhalb der EU gibt es Länder, in denen rechtsstaatliche Prinzipien offen verletzt werden: Ungarn und Polen. Im Vergleich dazu sind die türkischen Verstösse gegen die Rechtsstaatlichkeit subtiler.
Wie stehen Sie selbst zu einem EU-Beitritt der Türkei?
Ich würde es befürworten, wenn die Türkei Vollmitglied der EU würde. Ich denke auch, sie hätte grundsätzlich das Potenzial, wenn die EU sie darin unterstützt, eine stabile Demokratie zu werden. Jedoch ist auch Westeuropa nicht an einer gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Zukunft interessiert.
Hängt das auch mit dem Islam zusammen?
Das ist sicher ein Grund. Die Islamophobie ist denn auch ein grosses Problem in westlichen Gesellschaften. Ich frage mich, ob den Muslimen ein ähnliches Schicksal bevorsteht wie den Juden. Die Islamophobie kann ein Boden für Faschismus sein.
Sie sehen die Gefahr einer neuen faschistischen Ära in Europa?
Gegenwärtig beobachte ich einen weltweiten Prozess der Dehumanisierung. Faschismus ist natürlich ein starker Begriff. Ich denke aber, dass es beispielsweise nicht ausgeschlossen ist, dass Menschen wegen ihrer Religion getötet werden. Donald Trump, der Präsidentschaftskandidat in den USA, lehnt Menschen aus dem einzigen Grund ab, dass sie Muslime sind. Das ist die gleiche eindimensionale Haltung wie beim IS, der Menschen tötet, weil sie Christen sind.
Bülent Kaya (55) ist auch nach seiner Flucht ein genauer Beobachter der Situation in der Türkei. Sein Fazit zum Stand der Demokratie und der Menschenrechte: Die Türkei macht einen Schritt vorwärts, zwei, in der Südosttürkei sogar drei zurück.