Kost und Logis: Die dicke Decke

Nr. 7 –

Karin Hoffsten über das, was unsere Existenz menschlich macht.

Als Kind schrak ich manchmal, kaum hatte ich mich ins Bett gekuschelt, wieder hoch: Aus irgendwelchen Tiefen fiel mich eine Angst an, ich hätte vielleicht eines Tages kein warmes Bett mehr und niemanden, der mich beschützt. Der Schrecken hatte etwas Archaisches, er lebt wieder auf, wenn ich jetzt die Bilder an Europas Grenzen sehe.

Trockene Kleider, Wärme und etwas zu essen – es ist wenig, was ein Mensch an Existenziellem braucht. Doch Tausenden, die jetzt fliehen, fehlt auch dieses wenige. Neben vielen anderen half auch ein junges Schweizer Paar im Januar an der Küste von Lesbos mit, ankommende Bootsflüchtlinge mit dem Notwendigsten zu versorgen. Ich las ihren persönlichen Bericht.*

Bei der Ankunft auf Lesbos liegt Schnee, nachts herrschen Minustemperaturen. In Schlauchbooten landen an manchen Tagen 300, an anderen über 2000 Menschen am Strand, unter ihnen sind sehr viele Kinder; durchgefroren, mit nassen Schuhen, Strümpfen und Hosen, manchmal auch völlig durchnässt. «Wir kleiden einen Mann aus Afghanistan neu ein. Seine Haut ist schon lila vor Kälte. Sein Gesicht ist mit einer Salzkruste bedeckt. Die Männer sitzen jeweils auf der Aussenkante des Bootes und bekommen die ganze Gischt ab. Zu dritt versuchen wir ihn aufzuwärmen. Er kann sich fast nicht bewegen, versucht zu lächeln.»

Jetzt im Winter kostet der Platz im Schlepperboot zwischen 600 und 1500 Euro. Für 5 Euro würde man einen Platz auf der Fähre von der Türkei nach Lesbos bekommen, aber die dürfen die Flüchtenden nicht legal benutzen. Einmal sehen die HelferInnen am Horizont ein Boot, das von einem Fischer abgeschleppt wird. «Es ist leer. Wir wundern uns. Später erfahren wir, dass über 40 Menschen ertrunken sind.»

Dann kommen wieder Menschen an. «Ich kümmere mich um eine Frau und ihre drei Kinder. Ich nehme das kleinste auf den Arm, die Mutter ist komplett aufgelöst, versucht panisch ihre Kinder und zwei grosse Taschen zusammenzuhalten. Ich lächle sie an, ‹It’s ok, you are safe›, und setze sie neben das grosse Feuer. (…) Die Kinder sind verstört und verunsichert durch die weinende Mutter. Immer wieder frage ich mich, wie viel die Kinder tatsächlich mitkriegen und wie sie so etwas wohl verarbeiten.»

Ebenfalls freiwillig arbeiten die «Dirty Girls», Frauen, die eine Wäscherei gemietet haben und dort zurückgelassene Kleider und Decken waschen, trocknen und wieder an die Lager abgeben. «Auch emotional ist es gut für die strapazierten Menschen, wenn man sie in eine dicke, weiche Decke einpacken kann.»

Die dicke, weiche Decke steht gewissermassen für all das, was Europas geschichtsvergessene Regierende diesen Menschen seit Jahren verweigern: Empathie und sichere Fluchtwege. Mitmenschlichkeit eben.

* Alle Angaben und Zitate von Carola Bachmann Helbling oder Simon Helbling, www.yesternight.ch/6535285/lesbos-19-27116.

Karin Hoffsten lebt behütet in Zürich. Für einmal ist ihr jeglicher Hang zu Scherz und Ironie vergangen.