«Der Fall Meursault»: Jetzt spricht der Bruder des Ermordeten

Nr. 10 –

«Der Fremde» von Albert Camus hat ganze Generationen geprägt. Der algerische Schriftsteller Kamel Daoud holt nun zu einer «Gegendarstellung» aus – ein politisch scharfer, poetischer Roman.

In den vergangenen Wochen hat Kamel Daoud mit einer Stellungnahme in der französischen Zeitung «Le Monde» für Aufregung gesorgt. Der algerische Journalist und Schriftsteller hatte sich zu den Silvesterereignissen in Köln geäussert und dabei auch das «sexuelle Elend» in den muslimischen Ländern als Erklärungsmuster in Anschlag gebracht. Dies und seine Interpretation des Islam als einer «Religion zum Tod», so wurde ihm daraufhin vorgeworfen, rufe jedoch althergebrachte Klischees auf, die mehr vernebelten als erhellten.

Dabei ist Daoud durchaus aufklärerisch unterwegs und scheut auch die Herausforderung von Ikonen wie Albert Camus nicht. Dessen Roman «Der Fremde» (1942) war das Fanal für eine über mindestens drei Jahrzehnte nachwirkende existenzialistische Literatur, mit dem der aus dem algerischen Oran stammende Autor seine biogeografischen Fesseln abstreifte und als Pariser Stimme wahrnehmbar wurde.

Der namenlose Konterpart

Die Geschichte des mediokren, ambitionslos vor sich hin lebenden Speditionskaufmanns Meursault, der unter der brachialen Mittagssonne am Strand von Algier scheinbar willen- und absichtslos einen Menschen niederschiesst, gehört bis heute zu den grossen Schuldparabeln der modernen Literatur. Denn nicht den Mord an einem Araber legt ihm das kafkaesk anmutende Gericht zur Last, sondern seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod seiner Mutter, seine Indifferenz gegenüber jeglicher Schuld, seine Gottferne und letztlich die Akzeptanz des Todes. «Es besagt nichts», heisst es in der berühmten Exposition des Romans. Das Nichts ist die provozierende Leerstelle dieses invasiv operierenden Textes.

Doch Camus’ Titelfigur hat einen verschwiegenen Gegenpart, der bei der Spurensuche um Meursault nie eine Rolle spielte. Erst die postkoloniale Wende ermöglichte, die westliche Denkfigur des Absurden auf ihre Verdunklungen hin zu befragen, auf die abgewandte Seite der intellektuellen Spielereien und das wahre Opfer: den lediglich als «Araber» bezeichneten Mann, der zufällig an diesem Strand war und dem Camus noch nicht einmal einen Namen gönnt. Ein Skandalon, das auch linke ExegetInnen nicht störte.

Diesmal von rechts nach links

Siebzig Jahre und einen Befreiungskampf später sitzt ein alter Mann namens Haroun Nacht für Nacht in einer Bar in Oran und erzählt die Geschichte seines Bruders Moussa, Moses, der in jener gesetzlosen «Teufelszeit» zwischen 12 und 14 Uhr zu Tode gekommen war, aus Überdruss und Langeweile oder einfach, weil Meursault von der Sonne geblendet worden war. «Diese Geschichte müsste neu geschrieben werden», heisst es im Wiederaufnahmeverfahren des «Falls Meursault», «in der gleichen Sprache, aber diesmal, wie das Arabische, von rechts nach links.»

Dass er in seiner Gegendarstellung das Buch um den berühmten Mörder keineswegs nachzuahmen beabsichtige, wird gleich zu Beginn klargestellt. Die französische Sprache habe sich der Erzähler wie «herrenloses Gut» angeeignet, um den Mörder, der sich ins Nichts aufmachte, zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen und ihn wahrzunehmen. Nicht zu einem Duell mit einem nicht mehr einholbaren Toten, dessen Genie darin bestand, ein Verbrechen vergessen zu machen, fordert der Erzähler heraus, sondern zu einer Stellungnahme: «Das Absurde tragen mein Bruder und ich auf unseren Schultern oder im Bauch unserer Heimat.»

Während Camus allerdings aus einer aus dem Ruder gelaufenen Abrechnung «ein philosophisches Verbrechen» gemacht hat, verwandelt Daoud den «Fall Meursault» in poetische Münze. Einem mit am Tisch sitzenden jungen Literaturdozenten und mit dem «Gespenst» Camus’ im Rücken erzählt Haroun aus seiner Perspektive die Geschichte seiner algerischen Familie, die sich seit dem Abtauchen des Vaters auf den älteren Bruder gestützt hat.

Dessen «absurder» Tod stürzt die Familie in materielles Elend, und sie verlässt Algier in Richtung ausgerechnet jenes Dorfs, Hadjout, in dem Meursaults Mutter begraben liegt. Darüber hinaus kann sich Haroun von der Schuld, überlebt zu haben, nicht lösen. Den Bruder vor der Welt als Märtyrer zu behaupten, ist die Mission des Erzählers, dieses modernen Sisyphos: Er habe ein Recht zu leben, «trotz der Absurdität meiner Existenz, die darin besteht, einen Leichnam einen Berg hinaufzuhieven, bevor er wieder hinunterstürzt, und das ohne Ende».

Solche Verweise auf den «Urtext» finden sich zahlreich, oft in ironischer Brechung, sie reichen von den «zwei kurzen Schlägen auf die Pforte der Befreiung» bis zu einer langen Passage am Ende des Berichts. Daoud persifliert hier den berühmten Schluss des Camus-Romans, indem er «Priester» durch «Imam» ersetzt. Mit dieser dem Erzähler in den Mund gelegten Religionskritik betritt er ein in Algerien gefährliches Feld. «Die Religion», sagt Haroun, «ist für mich wie öffentliche Verkehrsmittel, ich nehme sie nicht. Ich bewege mich gerne hin zu Gott, auch zu Fuss, wenn es sein muss, aber nicht in einer organisierten Gruppenreise.» Mit solchen Passagen zog der Autor eine Fatwa auf sich.

Doch es wäre zu kurz gegriffen, den Roman nur als Pamphlet gegen den Islamismus zu lesen, das übrigens auch als Kritik der Folgen der algerischen Befreiung zu verstehen ist. Haroun nämlich wiederholt das Verbrechen, indem er ein paar Tage nach der Befreiung Algeriens 1967 auf Wunsch seiner Mutter und völlig grundlos einen Franzosen erschiesst. Doch auch diesmal wird dem Erzähler nicht die Tat als solche zur Last gelegt, sondern dass er sie zu spät und nicht legal als Teil der algerischen Befreiungsarmee begangen hat.

Unverkennbar sind in die Beschreibungen der alten Kolonialverhältnisse die Lektüren Edward Saids eingegangen, etwa wenn von Algerien als einer vergewaltigten Prostituierten die Rede ist, die «dem Kolonialherrn serviert» wurde. Er habe sich nie als «Araber» gefühlt, sinniert Haroun. «Es ist wie die Negritude, die nur durch den Blick des Weissen existiert.» Es brauchte diesen Blick, um seinen Bruder zu töten. Nur dass die Gewaltverhältnisse mit der Befreiung eben nicht endeten.

Doch bei aller politischen Schärfe, die Daoud als unerschrockenen und polemischen Journalisten ausweist, besticht der Autor auch als Poet mit seiner sensiblen Beobachtungsgabe und seiner Bilderfülle, die er dem puristischen Vorbild, der knapp sezierenden, philosophisch verbrämten Sprache Camus’ gegenüberstellt. «Gerade hat die Nacht den Kopf des Himmels in Richtung Unendlichkeit gewendet. Es ist der Rücken Gottes, den du siehst, wenn die Sonne dich nicht mehr blind macht.»

Schreiben ist Erinnerung

Dass der Erzähler die Indolenz seines Vorgängers Meursault in Form einer dramatischen Mutter-Sohn-Beziehung ausbaden muss, mit allen Erscheinungen des Liebesscheiterns, ist nicht nur ein psychologischer, sondern auch ein literarischer Aspekt dieses Romans. Denn auf einer zweiten Ebene verhandelt Daoud das «Mörderische» des Schreibens selbst. Niemand hätte sich des Fremden erinnert, «wenn er nicht getötet und geschrieben hätte».

Schreiben ist, wie bei Camus, Erinnerung, die auch das Potenzial hat, auszulöschen. Sein Roman, sagt Daoud, sei aber nicht als Antwort auf Camus zu verstehen, sondern er habe durch ihn seinen eigenen Weg gefunden.

Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung. Aus dem Französischen von Claus Josten. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2016. 199 Seiten. 25 Franken