Albert Camus (1913–1960): Aus dem Absurden rettet die Liebe

Nr. 45 –

Albert Camus, der am 7. November vor hundert Jahren geborene Humanist und Anarchosyndikalist, bietet in seinem Werk eine Rettung aus der absurden Weltsituation an.

In seinem Essay «Der Mythos des Sisyphos» (1942) erfasste Albert Camus das Lebensgefühl eines ganzen Jahrhunderts. Spätestens nachdem Friedrich Nietzsche den Tod Gottes ausgerufen hatte, blieb die Frage nach dem «Warum leben?» unbeantwortet. So schreibt Camus: «Manchmal stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Strassenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Strassenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das ‹Warum›, und mit diesem Überdruss fängt alles an.»

Albert Camus war kein Existenzialist, wie immer wieder behauptet wird. Er war ein Existenzphilosoph. In einem Interview erklärte er 1945 zum ständigen Vergleich mit dem Grossmeister des Existenzialismus, Jean-Paul Sartre: «Sartre und ich, wir wundern uns immer, unsere Namen miteinander verbunden zu sehen.» Tatsächlich unterschieden sich die beiden in ihrer Haltung zentral.

So empfand Sartre einen tiefen Ekel gegenüber der Natur und verachtete auch den eigenen Körper. In seiner Philosophie ist die Natur wertneutral, und «der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. Das ist das erste Prinzip des Existentialismus.» Die Existenz geht der Essenz voraus. Der Mensch ist zunächst einfach da (Existenz) und hat keine naturgegebenen Eigenschaften, es mangelt ihm an Wesensmerkmalen (Essenz). Die Natur kann uns nach Sartre keine Richtschnur, ja nicht einmal einen Fingerzeig für irgendeinen Sinn oder irgendeinen Wert geben. Sie ist einfach da, sie will nichts, sie gibt nichts. Und deshalb ist der Mensch vollkommen frei.

Freiheit ist auch Camus’ zentraler Begriff. Doch notierte er 1953: «Die beiden üblichen Irrtümer: die Existenz gehe der Essenz oder aber die Essenz der Existenz voraus. Die eine wie die andere aber gehen im gleichen Schritt.» Für Camus stehen sich Mensch und Natur nicht diametral gegenüber, denn der Mensch ist immer schon Teil der Natur – und hat somit auch natürliche Eigenschaften.

Das gute und einfache Leben

Als Sohn einer Analphabetin und eines Feldarbeiters, der im Ersten Weltkrieg fallen sollte, wuchs Camus unter ärmsten Verhältnissen in Algerien auf. Diese Erfahrungen prägten ihn ein Leben lang: Paris war ihm verhasst, er liebte die Sonne, das Meer, gebräunte Körper; Roland Barthes sprach treffend von einer «solaren Philosophie». Camus betrachtete die Philosophie nicht als System, sondern als Werkzeug, um «eine Lebenskunst für Katastrophenzeiten» zu finden. Was zähle, sei das Handeln. So stellte er die Frage der antiken Philosophie nach dem «guten Leben». Und weil er von breiten Schichten verstanden werden wollte, benutzte er eine einfache, gradlinige Sprache.

Wie sollen wir Verbrechen und Grausamkeiten gegenübertreten, wenn Gott das Zeitliche gesegnet hat und der Mensch der Absurdität seiner Existenz ins Auge blickt?, so fragte Camus. «Im schwärzesten Nihilismus unserer Zeit suchte ich nur Gründe, ihn zu überwinden.» Mitten im Zweiten Weltkrieg formulierte er als Wahl: Entweder stürzen wir uns gleich von den Klippen – oder aber wir revoltieren gegen die Sinnlosigkeit und ihre nihilistischen Folgen: den Terror der Welt. Das meint Camus mit den ersten Worten seines «Mythos des Sisyphos»: «Es gibt nur ein wirkliches ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heisst auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später. Das sind Spielereien; erst muss man antworten.» Camus’ Antwort war eindeutig: Revolte. Ein Leben lang. «Gegen die Absurdität des Lebens hilft nur die menschliche Solidarität.»

Camus’ Kronzeuge ist Sisyphos, der von den Göttern mit einer grausigen Strafe belegt wurde: Unsterblich, ist er auf alle Ewigkeit dazu verdammt, einen schweren Felsbrocken einen steilen Hang hinaufzurollen, der ihm jedes Mal kurz vor dem Gipfel entgleitet, sodass er wieder von vorn beginnen muss. Kann es ein sinnloseres Leben geben? Doch Camus erklärt feierlich: «Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» Egal wie sinnlos alles erscheinen mag, so teilen doch alle Menschen dieses Schicksal. Deshalb ist die Solidarität und Liebe unter den Menschen das höchste anzustrebende Gut, wie Camus in seinem Tagebuch notiert: «Elend und Grösse dieser Welt: sie bietet keine Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten. Es herrscht das Absurde, und die Liebe errettet davor.»

Den Zerfall der Welt verhindern

In seinem Buch «Der Mensch in der Revolte» wandte sich Camus gegen alle Spielarten eines totalitären Sozialismus – und gegen Sartre, der Stalins Gulag als notwendiges Übel ansah, um die Ideale des Kommunismus zu verwirklichen. Camus entgegnete dem, «dass die menschliche Person über dem Staat steht», und rief gegen ein instrumentelles Denken und Handeln zur Revolte der Humanität auf. Deshalb engagierte er sich in der Résistance, deshalb prangerte er den Terror Stalins an. Und deshalb forderte er nur einen Tag nach den Nürnberger Prozessen 1949 die weltweite Abschaffung der Todesstrafe, während allerorten Blut mit Blut vergolten wurde. In seiner Nobelpreisrede betonte Camus 1957: «Jede Generation sieht zweifelsohne ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiss, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch grössere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.»

Zwar hatte Camus bereits 1937 die KP verlassen, doch schlug sein Herz weiterhin links. Statt eines totalitären Sozialismus befürwortete er einen libertären Anarchismus – eine Verbindung, die bisher nur Lou Marin in seinem Buch «Ursprung der Revolte» (1998) und der französische Philosoph Michel Onfray in seiner aktuellen Camus-Biografie, «Im Namen der Freiheit» (2013), herausgearbeitet haben. Lou Marin hat nun die anarchistischen Artikel, Interviews und Reden Camus’ herausgegeben und damit erstmals für das deutschsprachige Publikum zugänglich gemacht.

Für Camus war klar: «Kein Mensch besitzt so viel Festigkeit, dass man ihm die absolute Macht zubilligen könnte.» Jede Herrschaft von Menschen über andere Menschen war für ihn ein Angriff auf die Freiheit – was sowohl für den Totalitarismus als auch für den Kapitalismus gilt: «Die bürgerliche Moral stösst uns durch ihre Heuchelei und ihre mittelmässige Rohheit ab. Der politische Zynismus, der einen grossen Teil der revolutionären Bewegung dominiert, widert uns an. Und was die sogenannte unabhängige Linke anbetrifft, so ist sie in Wirklichkeit von der Macht des Kommunismus fasziniert und klebt an einem Marxismus, der sich vor sich selber schämt: Sie hat daher bereits abgedankt. Wir müssen also in uns selbst, im Zentrum unserer Erfahrung, das heisst im Innern des Denkens der Revolte die Werte finden, die wir brauchen.»

Welche Werte sind das? Jeder einzelne Mensch – und die Solidarität unter ihnen. Menschenleben dürfen niemals einer politischen Idee geopfert werden. Denn Camus erkannte schnell, dass die politische Macht nicht von oben – cäsarisch –, sondern von unten – libertär – organisiert werden muss; der «Syndikalismus ist wie die Gemeinde die Negation des bürokratischen und abstrakten Zentralismus zugunsten der Wirklichkeit.»

Libertäre Ideen

Camus unterhielt enge Kontakte zu AnarchistInnen aus aller Welt, er hielt Reden vor anarchistischen Gewerkschaften, und einen Grossteil seines Nobelpreises spendete er an spanische ExilanarchistInnen, die auf der Flucht vor Diktator Franco waren. Überhaupt ist Camus’ Werk durchtränkt von libertären Ideen. In einem Artikel wünschte sich Camus schon 1944 eine «internationalistische Ökonomie, in der die Rohstoffe verstaatlicht werden, der Handel kooperativ organisiert und die kolonialen Absatzmärkte allen zugänglich gemacht werden und das Geld selbst Kollektivstatus erhält». Wenig später forderte er die «Vereinigten Staaten der Welt», die «Abschaffung der Lohnarbeit» und «die Gewerkschaften an der Verwaltung des Volkseinkommens zu beteiligen», um dann 1951 zu betonen: «Meine Sympathien gelten den libertären Formen des Syndikalismus.»

Unklar ist, welche Rolle genau Camus dabei dem Staat zuspricht: Wollte er ihn gänzlich abschaffen, oder setzte er auf eine föderale Räterepublik? Fest steht jedoch: Camus wollte keine parlamentarische Sozialdemokratie, sondern einen Anarchosyndikalismus, bei dem die Produktionsmittel in den Händen der föderalistisch und basisdemokratisch organisierten Gewerkschaften liegen. Es wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk, wenn diese politische Haltung Camus’ endlich anerkannt würde.

Patrick Spät lebt als freier Autor in Berlin, zuletzt erschien von ihm «Das Leben – und der Sinn des Ganzen», Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013. www.patrickspaet.wordpress.com

Neues zu Camus

Catherine Camus (Hrsg.): «Albert Camus in Bildern & Dokumenten». Aus dem Französischen von Alwin Letzkus. Edition Olms. Zürich 2010. 210 Seiten (Grossformat). Fr. 67.90.

Lou Marin (Hrsg.): «Albert Camus. Libertäre Schriften (1948–1960)». Laika Verlag. Hamburg 2013. 384 Seiten. Fr. 36.50.

Michel Onfray: «Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus». Aus dem Französischen von Stephanie Singh. Albrecht Knaus Verlag. München 2013. 576 Seiten. Fr. 41.90.

Iris Radisch: «Camus. Das Ideal der Einfachheit». Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2013. 352 Seiten. Fr. 29.50.