Literaturskandal: Die gestohlene Biografie

Nr. 9 –

Vergangenes Jahr gewann Kamel Daoud für seinen neuen Roman «Houris» den renommierten Prix Goncourt. Doch die Arbeitsweise des algerisch-französischen Autors scheint höchst fragwürdig.

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Etwas ist faul im Staate Algerien. Die Geister der Opfer des schwarzen Jahrzehnts, des algerischen Bürgerkriegs zwischen 1992 und 2002, rufen sich anlässlich einer literarisch-politischen Polemik dieser Tage machtvoll in Erinnerung. Der blutige Kampf zwischen Algeriens Militärregime und islamistischen Gruppen hat laut Schätzungen 60 000 bis 200 000 Menschenleben gefordert. Eine «Charta für den Frieden und die nationale Versöhnung» verbietet seit 2006 die «Benutzung oder Instrumentalisierung der Wunden der nationalen Tragödie» unter Androhung einer mehrjährigen Gefängnisstrafe; faktisch ist es fast unmöglich, vor Ort den Bürgerkrieg zu thematisieren.

Genau das tut «Houris», der jüngste Roman des 1970 nahe der Hafenstadt Mostaganem geborenen Kamel Daoud. Bereits «Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung», Daouds Umschrift von Albert Camus’ «Der Fremde», hatte 2015 den Prix Goncourt du premier roman gewonnen. Nun wurde auch «Houris» vergangenes Jahr mit dem eigentlichen Prix Goncourt, Frankreichs verkaufsförderndstem Literaturpreis, ausgezeichnet. Der Exilalgerier und Wahlfranzose ist sowohl dem Regime als auch den in seinem Geburtsland noch immer sehr präsenten Islamisten verhasst. Letzteren, weil Daoud seit 1996 als Kolumnist des «Quotidien d’Oran», der Tageszeitung der zweitgrössten Stadt des Landes, die Gängelung der Frauen, die Unterdrückung der Sexualität und ganz allgemein den lähmenden Einfluss des religiösen Rigorismus ins Visier genommen hatte. Ersterem, weil er an Algeriens 2019 verstorbenem langjährigem Präsidenten Abdelasis Bouteflika kein gutes Haar lassen mochte und auch unter dessen zwei Nachfolgern immer wieder an Tabuthemen zu rühren wagte.

So auch in «Houris» mit seinem Fokus auf das schwarze Jahrzehnt. Im ersten Teil des Romans brütet eine 26-Jährige über den missglückten Versuch von Islamisten, sie Ende 1999 zu ermorden, und über ihr Leben mit durchgeschnittener Kehle bis zur Erzählgegenwart, vier Tagen im Juni 2018. Im zweiten Abschnitt begegnet die junge Frau auf ihrer Reise zu ihrem Heimatdorf, dem Ort des Massakers, einem Buchhändler und Verleger, der ihr auf einer langen Autofahrt sein eigenes Los als traumatisiertes Bürgerkriegsopfer ausmalt: Während alle von Amnesie befallen scheinen, ruft er selbst wie unter Zwang Namen, Daten, Orte und Zahlen in Erinnerung. Das letzte Drittel von «Houris» endlich schildert, wiederum aus der Perspektive der jungen Frau, deren vergeblichen Versuch, den Bewohner:innen des Heimatdorfs das seinerzeitige Blutbad in Erinnerung zu rufen, und ihren symbolisch überhöhten Zweikampf mit einem doppelgesichtigen Imam.

Bleich und bleiern

In literarischer Hinsicht ist der Roman eine Enttäuschung. Die Thematik an sich ist bereits bleich und bleiern, Daouds Stil mit seinem Mangel an Farbe und Flexibilität drückt die Stimmung noch zusätzlich. Steif-gestelzte Formulierungen und hinkende Vergleiche («die Mutter fiel auf den Boden, als hätten ihre Knochen sie auf einen Schlag verlassen») machen die Lektüre zum Ausdauertraining. Grobe Grammatikfehler («Du, der Du Dich lustig machte») bezeugen, dass weder bei der Konzeption noch bei der Korrektur viel Sorgfalt auf den Text verwandt wurde.

Die Unterteilung der über 400 Seiten in 100 Kapitelchen ohne stark strukturierte Erzählbögen verleiht «Houris» etwas zugleich Langfädiges und Kurzatmiges. Die durchgehend monologische Narration erzeugt Monotonie; die Erzählsituation wirkt oft konstruiert. So spricht im ersten Teil eine ungewollt Schwangere unter vielen «Verstehst Du? Siehst Du? Weisst Du?» den Fötus an, den sie abzutreiben beabsichtigt, derweil im zweiten ein an verbaler Inkontinenz leidender Exaltierter vor einer quasi stummen Unbekannten, die er am Rand der Autobahn aufgelesen hat, sein intimstes Innenleben ausbreitet.

Der Goncourt ist ein Preis für Halbbildungsbürger, für TV- und Radiomoderatorinnen, die Promotion mit Information verwechseln, und für Zeitgenoss:innen, die nicht lesen, aber an Weihnachten ihre Liebsten mit einem Pfund Hochkultur beglücken wollen. Er zeichnet meist vielhundertseitige Epen aus, die in bedeutungsschwerer Prosa leidvolle Einzelschicksale in tragischen Zeiten und an den dazugehörigen emblematischen Orten ansiedeln. «Houris» ist repräsentativ für den Geschmack der Goncourt-Jury.

Aber um Literatur geht es hier gar nicht. Vielmehr um Politik und um Ethik. In Algerien gilt Daoud, nicht erst seit der «Goncourtisierung» von «Houris», als ein schlechter Muslim und Landesverräter. Sein langjähriges, couragiertes Anprangern des Islamismus ahndete ein salafistischer Prediger schon 2014 mit einem Hassaufruf auf Facebook. Und Daouds Annahme der französischen Staatsbürgerschaft 2020, seine Übersiedlung nach Paris 2023, erst recht seine Thematisierung des Bürgerkriegs in «Houris» – wo das diskreditierte Regime doch aus durchschaubaren Gründen einzig den Befreiungskrieg von 1954 bis 1962 verhandelt und verherrlicht sehen möchte – brachten ihm in seinem Geburtsland den Ruch eines Überläufers zur einstigen Kolonialmacht ein.

In Frankreich wiederum erhält Daoud Zuspruch aus dem recht(sextrem)en Lager, weil seine Kolumnen für das identitäre Pariser Wochenblatt «Le Point» oft um Themen wie Banlieues, Islam und Unsicherheit kreisen. Linke, dekoloniale Stimmen zeihen ihn hingegen der Islamophobie – so 2016, als er in «Le Monde» die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht 2015 in Deutschland geisselte. Neunzehn Soziologen, Historikerinnen und Politikwissenschaftler:innen warfen ihm in einem offenen Brief vor, «die abgegriffensten orientalistischen Klischees» zu recyceln.

Jüngst hat sich die Polemik aufs juristische Terrain verlagert. Eine junge Algerierin, Saâda Arbane, erstattete in Oran und in Paris Anzeige gegen den Romancier: Die Hauptfigur von «Houris» sei von ihrer eigenen Lebens- und Leidensgeschichte abgekupfert. Daoud entgegnete in «Le Point», seine Heldin habe nichts gemein mit der Klägerin bis auf die Verletzung – und eine solche finde man bei Hunderten von Algerier:innen. Er unterstellte Arbane, durch das Regime manipuliert zu sein – ihre Adoptivmutter ist eine ehemalige Gesundheitsministerin. Und er verwies auf den Umstand, dass jede und jeder im Land ihr trauriges Los kenne: «Sie hat ihre Geschichte überall erzählt.»

Die Onlinezeitung «Mediapart» leistete wieder einmal die Recherchearbeit, zu der Frankreichs übrige Medienorgane nicht fähig oder willens sind – und strafte Daouds Äusserungen in einem langen Beitrag Mitte Februar Lügen. Arbane ist laut algerischen und französischen Ärzt:innen weitherum die Einzige, die den Versuch, ihre Kehle durchzuschneiden, überlebt hat und seitdem eine Kanüle am Hals trägt. Ihr Schicksal wurde ein einziges Mal erwähnt, in einem Amsterdamer Magazin, dem Arbanes Adoptivmutter 2022 in vier Zeilen die Adoption des kleinen Mädchens geschildert hatte. Sonst sprechen die Betroffene wie ihre Familie nie öffentlich über die Gräuel, die dem Kind einst zugefügt wurden.

Viele Gemeinsamkeiten

Hingegen, und dies mutet in berufsethischer Hinsicht stossend an, war Arbane acht Jahre lang in psychiatrischer Behandlung bei Daouds Gattin. Diese habe 2021 und 2022 die junge Frau und deren Adoptiveltern um die Erlaubnis für ihren Mann gebeten, deren Geschichte literarisch zu verarbeiten – die Antwort lautete jeweils: Nein. Im Roman finden sich laut der Patientin Informationen, die sie allein ihrer Ärztin anvertraut hat – etwa, dass sie wegen ihrer Stimme in der Schule mit dem grausamen Spottnamen «Donald Duck» gerufen wurde.

Die Klageschrift enthält nicht weniger als 28 Gemeinsamkeiten zwischen Daouds Heldin und Arbane. Beide leben in Oran im vierten Stock eines «Baus C» im Viertel Hai El Yasmine, ihre biologischen Eltern waren Schäfer, sie tragen eine Tätowierung (in Algerien eine seltene Transgression), wurden durch eine einflussreiche Frau adoptiert, die sich weigert, das muslimische Opferfest zu feiern, haben ein «Lycée Lotfi» besucht, lieben Parfums und Pferde, haben einen Schwangerschaftsabbruch «mittels drei Pillen» erwogen, betreiben einen Coiffeursalon und so weiter.

Arbanes Anwälte, die von einer Verletzung der Intimsphäre sprechen, sind sich bewusst, dass im Reich der Fiktion andere Gesetze herrschen. Aber im Fall von «Houris» habe man es mit «massiven Anleihen bei der Biografie einer Dritten» zu tun: Ihre Ausbeutung ersetze bei Daoud die Imagination.