Kampf um Aleppo: Der Traum von der syrischen Résistance
Auch wenn der Waffenstillstand in Syrien zurzeit hält: Die Führung der Freien Syrischen Armee (FSA) bereitet sich auf eine Fortsetzung der Schlacht vor. Die WOZ hat zwei Generäle und einen Deserteur getroffen.
Das Hauptquartier der Freien Syrischen Armee (FSA) in der türkischen Stadt Gaziantep ist so gut versteckt, dass selbst General Adidb al-Schaliaf Mühe hat, es zu finden. Im dritten Stock eines Bürogebäudes macht Schaliaf halt und überlegt, wo er klingeln muss. Eine Tür gleicht der anderen, und nirgends hängt ein Schild mit der Aufschrift FSA. Nach kurzem Zögern drückt er einen Knopf. Die Tür öffnet sich; General Abdul Dschabbar al-Okaidi heisst uns eintreten.
Okaidi ist der Vorsitzende des Militärrats der Rebellen in Aleppo, Schaliaf befehligt die Freie Polizei in der von der Front zerrissenen zweitgrössten Stadt Syriens. Die Nachrichten von dort verheissen nichts Gutes. Zwar hat sich die Lage seit der Feuerpause entspannt. Aber Russland hat verkündet, dass sie nur in sechs Regionen Syriens gelte. Aleppo, in dem aus russischer Sicht Terroristen kämpfen, gehört nicht dazu.
Okaidi und Schaliaf sind dennoch die Ruhe selbst. Die RebellInnen hatten den Waffenstillstand im Vorfeld auf zwei Wochen begrenzt. Aus ihrer Sicht ist die Lage bei einer Fortsetzung der Schlacht um Aleppo alles andere als ausweglos. «Die Russen konnten nicht direkt an den Frontlinien bombardieren, weil sie sonst auch die Kämpfer des Regimes getroffen hätten», sagt Okaidi, «also hat uns das Bombardement nicht so beeinträchtigt.» Von einer Belagerung der Rebellen in Aleppo könne keine Rede sein. «Wir werden die Stadt künftig durch die Provinz Idlib vom Westen her versorgen.»
Kaum noch Verbündete
Doch dann würde die Versorgung durch Gebiete verlaufen, die von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert werden, oder durch Gebiete, in die sie gerade vorrücken. Nichts schmerzt die Anführer der Freien Syrischen Armee in Aleppo so wie die Angriffe der YPG im Norden der Metropole. Im vergangenen Jahr schickte General Okaidi seine Truppen nach Kobane, um den KurdInnen im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat beizustehen. Seine Soldaten starben im verlustreichen Kampf neben den YPG-KämpferInnen. «Wie nennt man jemanden, dem du zu Hilfe gekommen bist in schweren Zeiten und der dir in den Rücken fällt, wenn andere dann über dich herfallen?», fragt ein Mitarbeiter von General Okaidi.
Welche Verbündeten hat die FSA denn überhaupt noch? Die Antworten sind ausweichend. Mit der von Saudi-Arabien angekündigten Militärhilfe rechnen die beiden Generäle so wenig wie mit einer raschen Intervention der türkischen Streitkräfte. Während Okaidi und Schaliaf die Türkei «noch» als Freund wahrnehmen, werten sie die USA «noch nicht» als Feind. Aber Verbündete seien sie auch nicht mehr, sagt Okaidi.
Wer gehört zur FSA?
Vielleicht erklärt sich das Zögern der USA, die in der jetzigen brenzligen Lage eher auf die KurdInnen als auf die FSA setzen, auch damit, dass kaum jemand weiss, wer derzeit in Aleppo zur FSA gehört und wie bedeutend die einst grösste bewaffnete Gruppe der syrischen Opposition noch ist. Westliche ExpertInnen läuten schon seit Jahren die Totenglocke für die «moderaten Rebellen». Russland argumentiert, dass am Boden in Syrien nur noch Terroristen gegen das Regime kämpfen würden. General Abdul Jabbar al-Okaidi schüttelt den Kopf. In seiner Stadt gebe es nur hundert Kämpfer der Al-Nusra-Front, die sich zu al-Kaida bekennt. «Das wird im Westen völlig falsch eingeschätzt. Mit 20 000 Leuten in Aleppo und auch sonst in Syrien ist die FSA immer noch die grösste Gruppe im Widerstand», sagt der General.
Auf die Frage, ob er auch die zahlenmässig bedeutende salafistische Rebellengruppe Ahrar al-Scham zur FSA zählt, schweigen die Vertreter der FSA betreten. «Nun ja, wir sind alle Muslime», meint Okaidi schliesslich, der gerade noch vom «zivilen Staat» und einer «Demokratie für alle Syrer» gesprochen hat. Leider ist niemand von Ahrar al-Scham im Raum, der etwas zur Frage sagen könnte, ob die salafistischen Kämpfer in Aleppo tatsächlich dem Kommando und den Zielen des FSA-Kommandeurs folgen.
Laut den beiden Generälen geht der Kampf der FSA weiter – egal ob sie international isoliert dasteht oder nicht. Sollte es erneut nichts werden mit einer dauerhaften Feuerpause, hat General Okaidi bereits eine neue Strategie im Kopf: einen Partisanenkampf aus dem Untergrund heraus, nach dem Vorbild von Vietnam und Afghanistan. Russland solle provoziert werden, damit es mit Bodentruppen in die Schlacht eingreife. Ob dieser Plan B einer langjährigen Zermürbung der Gegner aufgehen kann, hängt davon ab, ob sich in Syrien noch genügend Partisanen finden. Die Massenflucht aus Syrien, gerade der SunnitInnen, legt einen anderen Schluss nahe.
Abdul Faisal* sitzt im türkischen Kilis, ein paar Kilometer von der ungewohnt ruhigen Front in Asas entfernt, beim Tee und räsoniert über den französischen Widerstand gegen die Nazis. «Die Résistance hat sich auch Freie Armee genannt. Aber die Résistance hatte die Welt auf ihrer Seite», sagt der ehemalige FSA-Kämpfer. Der syrische Widerstand gegen Diktator Baschar al-Assad scheitere, weil sich die regionalen und internationalen Mächte gegen die Revolution stemmen würden.
«Wir sind von aller Welt verlassen», sagt Faisal, der bereits zweimal desertierte: 2012 schloss sich der damalige Offizier der syrischen Armee in Homs der FSA an; 2015 beschloss er, sein Leben nicht für eine Revolution riskieren zu wollen, die aus seiner Sicht zum Scheitern verurteilt ist. Von seinen früheren Kameraden scheinen ihn zumindest einige trotz seiner Fahnenflucht nicht zu verachten. «Ich halte täglich Kontakt zu Leuten aus meiner Einheit», sagt Faisal. «Viele wollen einfach nur raus. Das ist ein Massaker.»
Befehle aus dem Ausland
Für die Zuversicht der Generäle von Aleppo hat Faisal nur Verachtung übrig. Ihn wundert es nicht, dass für Schaliaf und Okaidi nun auch die Ahrar al-Scham zur FSA gehört: «Die FSA hat es nie gegeben. Das waren immer einzelne Gruppen, die mal von der einen, mal von der anderen ausländischen Macht ihre Waffen bekommen haben. Deren Befehle mussten sie dann auch befolgen.» Der ehemalige Kämpfer nennt die Rebellen schlicht Söldner: Zurzeit folgten sie den ausländischen Befehlen, die Waffen schweigen zu lassen. Faisal rechnet aber damit, dass die Kämpfe bald weitergehen. Die Grossmächte müssten sonst ihre Konflikte beilegen, die sie überhaupt zum Stellvertreterkrieg in Syrien getrieben haben.
«Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn wir Hilfe bekommen hätten, um eine funktionierende Kommandostruktur aufzubauen für eine Armee, die wirklich für Syrien kämpft», sagt Abdul Faisal. Die ehrliche Unterstützung vom Westen, die Faisal sich gewünscht hätte, habe die FSA aber nie bekommen. Sein Traum von der syrischen Résistance scheint ausgeträumt.
* Name geändert.