Steuerparadies: Wie «Chilchmatt-Wysel» das Eldorado erfand
Walchwil im Kanton Zug ist 2016 die steuergünstigste Gemeinde der Schweiz – und stösst damit Wollerau im Kanton Schwyz vom Spitzenplatz. Doch das Dorf an der Zuger Riviera steht nicht gerne im Rampenlicht.
Die besondere Welt fängt schon an der Gemeindegrenze an. Da steht, über die Strasse von Zug her hinweggebaut, ein Haus mit putzigen Türmchen. Auf einem der Briefkästen stehen diskret die Initialen S. M. Sie stehen für Sergio Marchionne. Der schwerreiche Chef des Fiat-Chrysler-Konzerns hat sich hier eine Eigentumswohnung gekauft. Mit freier Sicht auf den glitzernden Zugersee, die Marchionne aber nur sehr selten geniesst – seine Eigentumswohnung ist bloss Zweitwohnsitz.
Etwas näher am Dorfkern schmiegt sich das teuerste Wohnquartier an den Hang. Hier, gut versteckt hinter einer Garage und geschützt von Hecken und einem bewaldeten Tobel, liegt die Villa von Aristotelis Mistakidis. Doch auch diesen milliardenschweren Manager des Rohstoffkonzerns Glencore sieht man nur selten im Dorf. Immerhin kennt man ihn als Tenue-Sponsor des FC Walchwil.
Klein-Nizza von Zug
Marchionne und Mistakidis sind nur zwei von geschätzt 350 VermögensmillionärInnen, die vom milden Steuerklima in Walchwil profitieren. Seit kurzem ist das Dorf mit seinen 3600 EinwohnerInnen zum steuergünstigsten Ort der Schweiz geworden. Das hat der Freiburger Steuerrechtsprofessor Pascal Hinny ausgerechnet. Wer hier wohnt, zahlt maximal 22,5 Prozent Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern.
Gemeindepräsident Tobias Hürlimann (CVP) will das aber nicht an die grosse Glocke hängen. Er empfängt die WOZ im Sitzungszimmer über seiner Spenglerei und Schlosserei, die rund fünfzig MitarbeiterInnen beschäftigt. «Wir können nichts dafür, dass wir die steuergünstigste Gemeinde der Schweiz geworden sind», sagt er. Und verweist darauf, dass Walchwil nur deshalb an die Spitze gerückt ist, weil Wollerau SZ die Steuern erhöhen musste. Die Gemeinde habe auch nie Werbung gemacht. «Wir sind für eine grosse obere Mittelschicht attraktiv, weil wir hervorragende Wohnlagen mit einer Ausrichtung nach Südwesten haben.»
Tatsächlich ist die sonnige Lage das grösste Kapital von Walchwil. Die Gemeinde, in der kein Industrieschlot raucht, wird oft als Riviera oder Nizza von Zug beschrieben.
Mitten durchs Dorf führt die SBB-Linie von Zürich und Zug Richtung Tessin. Darunter und vor allem darüber liegen die Einfamilienhäuser, Villen und zahlreiche neue Terrassenhäuser mit Eigentumswohnungen. Das Gelände ist steil – so hat jedeR Aussicht auf den Zugersee und die Rigi.
Einheimische und Gäste schwärmen von zauberhaften Sonnenuntergängen im Sommer, und in den Quartieren Richtung Walchwilerberg hinauf gedeihen Feigen, Kiwi, Zitronen, Trauben und Edelkastanien.
Am Seeufer beim Dorfzentrum befindet sich eine Schiffsanlegestelle – gleich dahinter verstecken sich hinter Hecken die privaten Badeplätze von einheimischen Familien. In der Nähe gibt es drei eher teure Gasthäuser. Und etwas oberhalb des Sees neben der Kirche hat sich Walchwil einen neuen Dorfplatz gegönnt. In der weiteren Umgebung liegen ein paar alte Bauernhäuser und wenige Mietblocks. Zwei Bankfilialen stehen zur Verfügung – die Bäckerei, die Metzgerei sowie die Post hingegen wurden geschlossen. Einkaufen können die WalchwilerInnen in einem Spar-Supermarkt.
Walchwil ist ein teures Pflaster. Die Preiskurve für Eigentumswohnungen, die das Beratungsunternehmen Wüest & Partner für die WOZ erstellt hat, zeigt stets nach oben. Die Preise liegen über dem Zuger und erst recht über dem Schweizer Durchschnitt. Eine mittlere Eigentumswohnung mit 110 Quadratmetern kostet 1,7 Millionen Franken. Tagsüber sind die Quartiere kaum belebt, die BewohnerInnen sieht man bloss in der dörflichen Rushhour in luxuriösen Limousinen oder teuren Geländewagen durch das Dorf fahren. Viele arbeiten in Kaderjobs bei internationalen Firmen in Zug oder Zürich.
Das steuerliche Eldorado begann 1965 mit einem Coup, der für Aufsehen sorgte. Zu dieser Zeit bezahlten die WalchwilerInnen die höchsten Gemeindesteuern im Kanton. Für den damaligen Gemeindepräsidenten und Bauernsohn Alois Hürlimann (CVP), genannt «Chilchmatt-Wysel», war klar, dass Walchwil so niemals Auswärtige und damit Wohlstand anlocken konnte.
Und also beschloss «Chilchmatt-Wysel», die Steuern massiv zu senken. Dazu holte er sich einen steinreichen Deutschen ins Boot, der seinen Lebensabend an der Zuger Riviera zu verbringen gedachte. Beide versprachen eine Defizitgarantie von je 150 000 Franken, falls die Steuersenkungen ein Loch in die Gemeindekasse reissen sollten. Die Gemeindeversammlung stieg auf den Deal ein, und als das Dorf tatsächlich klamm wurde, zahlten die Initianten die Defizite. Hürlimann, später Nationalrat und Zuger Baudirektor, verkaufte gar Land, um sein Versprechen einzulösen.
Sechs rote Tannenzapfen
Dass es ein Hürlimann war, der das Steuerparadies begründete, ist kein Zufall. Die Hürlimanns sind eine von sechs Sippen, die seit Jahrhunderten als Korporation die Geschicke des Dorfes prägen. Die Korporationsgeschlechter, die das Gemeindewappen in Form von sechs roten Tannzapfen an einer Tanne zieren, sind auch heute noch überaus standesbewusst. Da kann es durchaus vorkommen, dass einer gefragt wird, ob er ein Hiesiger sei oder ein «Angeschwemmter».
Viele Alteingesessene sind vom Boom im Dorf reich geworden. «Die Baubranche im Allgemeinen hat von dieser Entwicklung profitiert», sagt Gemeindepräsident Tobias Hürlimann. Gleichzeitig sorgt der Gemeinderat mit CVP-, FDP- und SVP-Mitgliedern für eine strenge Ausgabenpolitik – und rollt, wie einst «Chilchmatt-Wysel», den «Angeschwemmten» den roten Teppich aus. Angeschwemmt werden Schweizerinnen, Deutsche, Britinnen, Franzosen, US-Amerikanerinnen, Dänen, Schwedinnen oder Niederländer. 65 Nationen leben inzwischen in Walchwil, der AusländerInnenanteil ist mit 33 Prozent der höchste im Kanton.
Ob so viel «Masseneinwanderung» müsste dem Mitbegründer der Zuger SVP, Moritz Schmid, die Zornesröte ins Gesicht steigen. «Ja, eigentlich schon», sagt der pensionierte Gipsermeister, der gegenwärtig den Kantonsrat von Zug präsidiert. Vom Wohnzimmer seines Einfamilienhauses aus blickt er auf ein Wirrwarr von Villendächern hinunter, auf zwei grosse Palmen und den See. «Andererseits», fährt Schmid fort, «haben wir Ausländer der obersten Einkommenssegmente bei uns.» Man könne das nicht mit Gemeinden vergleichen, wo viele ausländische ArbeiterInnen wohnen. «Und hier profitiert die ganze Bevölkerung von den tiefen Steuern.»
Was Moritz Schmid hingegen stört: dass sich viele AusländerInnen nicht ins Dorfleben integrieren wollen. «Die Leute gehen am Morgen zur Arbeit und kommen am Abend zurück. Und am Wochenende wollen sie ihre Ruhe haben», sagt er. «Man sieht sie am Neuzuzügerapéro und dann kaum je wieder. Man will sich nicht verpflichten, und darunter leiden die Vereine.»
Dabei ist Walchwil gerade auf seine vielen Vereine besonders stolz. Rund fünfzig gibt es, doch die «Angeschwemmten» bleiben auf Distanz. In der freiwilligen Feuerwehr bleiben die Einheimischen weitgehend unter sich. Ausnahmen sind der Kirchenchor und der Tennisklub mit einem AusländerInnenanteil von vierzig Prozent.
Urs Flury, bis im letzten Herbst Präsident des Tennisklubs, wohnt in einem der Terrassenhäuser. Der Projektleiter bei der Luzerner Polizei war jahrelang beruflich im Ausland tätig. «Ich wollte das Multikulturelle pflegen und die Integration fördern und habe verschiedene Vereinsanlässe organisiert», sagt er, «aber es ist nicht geglückt.» Selbst bei AusländerInnen, die schon lange in Walchwil leben, fehle oft die Bereitschaft, die Sprache zu lernen, und das Interesse am Gemeindeleben. Das gilt auch für viele Eltern mit Kindern: 23 Prozent der Kinder von Walchwil besuchen internationale Privatschulen.
Kein Platz für Asylsuchende
Im Dorf hört man keine laute Kritik. Diese kommt vor allem von aussen, von linken PolitikerInnen. «Walchwil hat bei den Einkommen eine Ungleichheit, die ihresgleichen sucht», sagt Barbara Gysel, die im Nachbarort Oberwil wohnt und Präsidentin der SP des Kantons Zug ist. «Im internationalen Vergleich liegt Walchwil beinahe gleich auf mit Namibia, dem Land mit der weltweit allergrössten Ungleichheit bei den Einkommen. Wenn es in Walchwil so weitergeht, geht der soziale Kitt kaputt.» Und Andreas Hürlimann von den Grünen, mit Heimatort Walchwil und in Steinhausen zu Hause, verweist auf das Abseitsstehen der Gemeinde, sobald es um überregionale Projekte gehe: «Walchwil schert bei vielen Vorhaben aus, wenn durch eine Zusammenarbeit mit andern Gemeinden die Steuern angepasst werden müssten. Man will die finanziellen Privilegien für sich allein behalten.»
Dazu passt, dass Walchwil die Aufnahmequote für Asylsuchende seit Jahren nicht erfüllt. 35 Asylsuchende müsste Walchwil derzeit beherbergen, doch die Gemeinde gibt aktuell nur 17 Personen ein Dach. «Uns fehlen passende Unterkünfte», sagt Gemeindepräsident Tobias Hürlimann. Eine Terrassenwohnung an Toplage könne die Gemeinde nicht bereitstellen, das wäre viel zu teuer und würde vom Kanton auch nicht finanziert. «Es gibt Gemeinden, die besser geeignet sind für die Unterbringungen.»
Unten am See beim Restaurant Sternen stehen der Küchenchef und ein Chef de Partie an der Seestrasse und machen Zigarettenpause. Der «Sternen», bis im November ein Gourmettempel, soll erneut als Lokal für eine gehobene Kundschaft lanciert werden. Über Walchwil wissen die beiden wenig Bescheid. «Wir leben nicht hier, das können wir uns gar nicht leisten», sagen sie unisono. «Viel zu teuer.»
Derweil baut Walchwil, das ohne eigenes Dazutun – sozusagen unschuldig – zur steuergünstigsten Gemeinde der Schweiz geworden ist, weiter an seiner Zukunft. Beim Anwesen von Aristoteles Mistakidis, wo die Strasse zur Sackgasse wird, bauen ArbeiterInnen an einer neuen Verbindung in die reichen Quartiere. Die Gemeinde und die anliegenden GrundeigentümerInnen teilen sich die Kosten. Das Land ist als Bauland eingezont, hier gibt es Platz für 220 weitere EinwohnerInnen. Mit formidabler Aussicht auf den Zugersee.