Kaufkraft: Wo würden Sie lieber leben?
Die Bewohner:innen im Bezirk Bernina GR haben laut einer aktuellen Studie die tiefste Kaufkraft hierzulande – und jene im Bezirk Höfe SZ die höchste. Doch was heisst das im Alltag? Zwei Ortsbesuche.

Bezirk Höfe
Durchschnittliche Kaufkraft: 122 000 Franken
21 Minuten mit der S-Bahn vom Zürcher Hauptbahnhof – und schon ist man in Pfäffikon SZ. Willkommen in den Höfen, dem Bezirk mit der kaufkräftigsten Bevölkerung. Rund 30 000 Menschen haben in den drei dazugehörigen Gemeinden Feusisberg, Wollerau und Freienbach ihren Wohnsitz.
Geld stinkt nicht. An diesem Frühlingstag Anfang Mai riecht es nach Seeluft und Heu. Von Plakaten strahlen Jugendliche, die für eine internationale Privatschule werben. Was im Dorfzentrum gleich beim Pfäffiker Bahnhof sonst noch so auffällt: die vielen Geschäftshäuser aus jüngerer Zeit. Und ziemlich unbelebte, saubere Strassen.
Im «Capolinea», dem ehemaligen Bahnhofbuffet, wartet Otto Kümin (72). Als pensionierter Sekundarlehrer, der im Bezirk aufgewachsen ist, jahrzehntelang dort unterrichtet hat und bis heute dort wohnt, weiss er, wie sich die Gegend in den letzten Jahrzehnten verändert hat; als Sektionspräsident der Bezirks-SP und Vizepräsident des kantonalen Gewerkschaftsbunds kennt er auch die Schattenseiten des Booms der jüngeren Vergangenheit.

Aufgewachsen ist Kümin in den fünfziger Jahren in Schindellegi in der Gemeinde Feusisberg. In den Sechzigern besuchte er die Sekundarschule in Freienbach, «eine Turnhalle gabs nur in Pfäffikon, damals noch ein hübscher Weiler mit Kirche, Obstbäumen und Bauernhöfen». Noch bis in die siebziger Jahre waren die Höfe eher ärmlich und landwirtschaftlich geprägt. Eine erste Zäsur brachte ab den späten Sechzigern die A3, mit deren Eröffnung die Stadt Zürich schlagartig näher rückte. «Indem auch weniger gut Verdienende von hier mehr und mehr Bestandteil des Zürcher Wirtschaftsraums wurden, partizipierten auch sie am aufkommenden Wohlstand», sagt Kümin.
Architektur aus der Vorhölle
Doch je mehr der Kanton Schwyz und insbesondere die Höfe die Steuern senkten, desto zahlreicher kamen die Schwerreichen – und verdrängten den Mittelstand. In Freienbach etwa ist das durchschnittliche Einkommen pro Person seit der Jahrtausendwende von 63 000 auf rund 160 000 Franken gestiegen – so sehr wie in keiner anderen grösseren Gemeinde hierzulande.
Die ersten Superreichen siedelten sich in den siebziger Jahren in der Ortschaft Wilen an. Darauf folgten Villen in Wollerau, Feusisberg und später in Schindellegi. Diese Chronologie des zugezogenen Privatreichtums, so Kümin, lasse sich an den jeweils zur Bauzeit gerade in Mode befindlichen Architekturstilen ablesen.
Kaufkraft: Hohes Gefälle
Als Kaufkraft gilt das nominale Nettoeinkommen eines Haushalts (inklusive staatlicher Leistungen wie Arbeitslosengeld, Kindergeld oder Rentenbeiträgen). Es handelt sich also um jenen Geldbetrag, der einem Haushalt für den Konsum (Essen, Kleider, Freizeit, Hygiene) verbleibt, nachdem er alle regelmässig wiederkehrenden Zahlungsverpflichtungen wie Wohnungsmiete, Versicherungsprämien und Kreditraten bezahlt hat.
Basierend auf einer Studie des Beratungsunternehmens GFK fällt bezogen auf die Kantone auf, dass sich die grösste Kaufkraft in der steuermilden Zentralschweiz ballt: Zug führt hier klar vor Schwyz und Nidwalden. Am anderen Ende steht der Kanton Jura. Bei den Bezirken liegt Höfe mit einer durchschnittlichen Kaufkraft von 122 000 Franken zuvorderst. Der Bezirk Bernina befindet sich mit 36 000 Franken pro Kopf am Ende dieser Skala.
Mit rund 50 000 Franken pro Kopf haben die Bewohner:innen in der Schweiz eine fast doppelt so hohe Kaufkraft wie jene in Österreich oder Deutschland. Allerdings sind auch die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten in der Schweiz fast doppelt so hoch wie in den beiden anderen Ländern.
Kümin erinnert sich an eine Feusisberger Gemeindeversammlung in den Siebzigern, an der Friedrich Jahn, damaliger Besitzer des internationalen Gastrokonzerns Wienerwald und Franz-Josef-Strauss-Vertrauter, allein aufgrund seiner Prominenz zum Ehrenbürger ernannt werden sollte. «Ich sprach mich an der Versammlung dagegen aus, obwohl ich gar nicht in Feusisberg, sondern in Pfäffikon wohnte. Doch die damalige Bürger:innenschaft liess sich nicht davon abbringen – eine Art Kollektivkorruption.» Ab da habe sich das reichenfreundliche Steuerklima im Milieu des Finanzadels herumgesprochen. Die Folgen erlebte Kümin als Sekundarlehrer ab 1976 in Wollerau, als immer mehr Kinder von Reichen in die Schule kamen: «In den ersten Jahren hatte ich noch fünf bis sieben Bauernkinder pro Klasse – ab den Neunzigern wurden Bauernkinder zu Exot:innen.» Inzwischen machen die Kinder von Reichen bis sehr Reichen einen immer grösseren Teil der Wollerauer Jugend aus: Eine Jugendarbeiterin, die bis vor wenigen Monaten die Jugendarbeit Wollerau leitete und hier nicht namentlich genannt sein möchte, berichtet von Vierzehnjährigen, die regelmässig mit Hunderternoten ihr Getränk im Jugendhaus zahlen wollten – sodass sie immer wieder darauf habe hinweisen müssen, dass es dafür zu wenig Wechselgeld in der Kasse gebe.
Inzwischen sind die Steuern im Bezirk Höfe dreimal tiefer als im Rest des ohnehin steuergünstigen Kantons. Die fulminante Ansammlung von Kapital hat so weit geführt, dass das (von Bewohner:innen der gegenüberliegenden besonnten «Goldküste») als «Pfnüselküste» belächelte linke Ufer des Zürichsees inzwischen auch als «Platinküste» bezeichnet wird. Wobei sich zeigt, dass grosses Vermögen keineswegs mit gutem Geschmack zusammenhängen muss. Ob nun das pseudoitalienisch angehauchte «Klein-Venedig» inmitten der künstlich angelegten Kanäle in der ausgebaggerten Seebucht von Hurden oder die Pseudo-Bauhäuser in der «SunSet»-Siedlung in Schindellegi: Für architektursensible Spaziergänger:innen sollte es Triggerwarnungen geben.
In der «SunSet»-Siedlung» ballt sich die schweizweit wohl höchste «Platindichte». Hier residieren gemäss «Handelszeitung» unter vielen anderen Finanzschwergewichten der Banker Martin Ebner oder die FC-Southampton-Besitzerin Katharina Liebherr.* Kein Wunder, sind die Bodenpreise im ganzen Bezirk nach oben gesaust. «Für junge Mittelstandsfamilien ist es extrem schwierig, eine bezahlbare Wohnung zu finden», bestätigt Andreas Marty, Präsident des kantonalen Mieter:innenverbands. Was auch zur Folge hat, dass der grosse Teil des Personals, das den Reichen den Alltagskram erledigt, in der lokalen Gastronomie beschäftigt ist oder im Detailhandel arbeitet, aus benachbarten Bezirken oder Kantonen zur Arbeit anreisen muss. Zu tiefen Löhnen und hohen Mieten kommt noch eine Leerwohnungsziffer von 1,1 Prozent hinzu (am tiefsten in Freienbach mit 0,37 Prozent, wo man für eine Dreieinhalbzimmerwohnung schnell mal 4000 Franken pro Monat zahlt).
Der Sparbezirk
2019 versuchte Marty, der hauptberuflich als Maurer arbeitet und im preisgünstigeren Bezirk Einsiedeln wohnt, mit einer Interpellation im Kantonsrat auf die Notwendigkeit preisgünstigen Wohnungsbaus hinzuweisen. Nichts geschah – ein Jahr drauf schmetterte die Schwyzer Stimmbevölkerung die eidgenössische Initiative des Mieter:innenverbands für «mehr bezahlbare Wohnungen» ab, mit über 72 Prozent der Stimmen.
Am höchsten war der Nein-Anteil in den Höfen. Ein Indiz dafür, dass nicht sonderlich privilegierte Menschen kaum mehr hier wohnen und abstimmen können – und jene, die es sich grad noch knapp leisten können, womöglich noch immer davon träumen, dereinst ein Scheibchen vom zugewanderten Reichtum abschneiden zu können.
Nimmt man den Service public als Gradmesser dafür, inwieweit ein Teil davon auch der Allgemeinheit zugutekommt, sieht es düster aus. Während sich die Reichen ihre Opernpremieren in Zürich ebenso problemlos leisten können wie teure Privatschulen für den Nachwuchs, geht die normale Bevölkerung weitgehend leer aus. So kennt der Kanton nicht einmal eine gesetzliche Kulturförderung. Beiträge dafür gibt es einzig aus dem Lotteriefonds. Für die Höfe waren das 2022 total 130 000 Franken – rund 4 Franken pro Einwohner:in.
Wer denkt, dass dieses Manko an öffentlicher Infrastruktur durch Beiträge der Superreichen wenigstens zum Teil kompensiert würde, irrt sich. So etwa gab vor einigen Jahren die Tatsache zu reden, dass die Gemeinde Feusisberg aus Kostengründen kein WC am Umsteigebahnhof Biberbrugg installieren wollte. Ein aktuelles Beispiel dafür, wie sich Superreiche aus Angst vor einer Steuererhöhung gegen den Ausbau des Service public wehren, ist der seit Jahren geplante Neubau des Dorf- und Bildungszentrums in Wollerau. Nachdem in einem breit abgestützten Prozess ein Gesamtkonzept für Primarschule, familienexterne Kinderbetreuung, Mediathek, Aula und ein Lernschwimmbecken 2016 von den Wollerauer:innen deutlich angenommen worden war, schafften es Kreise um die Witwe des einstigen Spitzenbankers Marcel Ospel, die Umsetzung mit Einsprachen und Initiativen über Jahre zu blockieren. Erst kürzlich wurde eine erneute Initiative aus diesen Kreisen, die eine Reduktion des Kredits von 32 auf 18 Millionen Franken verlangte, von der Bevölkerung klar abgelehnt.
Zu einem Aufstand des einfachen Volkes gegen die Schwyzer Politik wird es in den Höfen wohl kaum je kommen. Warum auch – wo doch die Sozialhilfequote mit 1,4 und die Arbeitslosenquote mit 1,1 Prozent formidabel tief sind? Andreas Marty hat dazu eine hübsche Anekdote, die fast schon als Witz durchgehen könnte: «Es sind einmal zwei Hausfrauen, ein Gärtner und ein Sozialhilfebezüger mit einem Multimillionär am Stammtisch gesessen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen dieser Runde lag weit über dem Landesdurchschnitt. ‹Warum also›, so fragte der Geldsack in die Runde, ‹beklagt ihr euch über die wirtschaftliche Situation?›»

Bezirk Bernina
Durchschnittliche Kaufkraft: 36 000 Franken
Aus Sicht von Bundesbern liegt das Puschlav hinter einer Mauer schroffer Berge am anderen Ende der Welt. Beinahe sechs Stunden dauert die Bahnfahrt. Aus Sicht des Puschlavs sieht die Geschichte anders aus: Das Bündner Südtal liegt im Herzen Europas. Der italienische Wirtschaftsmotor brummt in der nahen Lombardei, die Millionenstadt Mailand ist näher als Zürich.
Cassiano Luminati wählte diesen Weg. Er studierte in der lombardischen Metropole Architektur. Das Puschlav teilt schliesslich Sprache und Lebenskultur mit dem Nachbarn. Luminati tat, was viele Puschlaver:innen seit jeher tun: Er ging weg und kehrte mit neuen Ideen zurück. Seit der Gründung im Jahr 2002 leitet der Fünfzigjährige das Weiterbildungs- und Kompetenzzentrum Polo Poschiavo.

Luminati ist eine Ausnahme. Denn die meisten, die heute ausserhalb des Tals in die Lehre gehen, in Chur die Fachhochschule besuchen oder in Zürich studieren, kehren nicht mehr heim. Giuseppe Falbo zum Beispiel lebt mit seiner Familie zwar in Chur, kennt aber noch immer jeden Namen in seinem Heimattal. Mit Blick auf die demografische Entwicklung treiben ihn Sorgen um: «Das Puschlav muss dankbar sein für die italienischen Grenzgänger:innen, sie kompensieren Arbeitskraft und Braindrain. Wir müssen trotzdem darüber nachdenken, was wir gegen die kommende Überalterung des Tals unternehmen können.»
Aufgeschmissen ohne Grenzgänger:innen
Die Puschlaver:innen, selbst wenn sie nicht mehr hier leben, wirken wie eine verschworene Gemeinschaft, verbunden durch ein unsichtbares Band. Wahrscheinlich liegt das am Bewusstsein, einer kleinen Minderheit anzugehören. Hier kennt jeder jeden. Steigt man in Poschiavo aus dem Zug, fällt das sofort ins Auge: Beim Flanieren durch den Ort halten Leute kurz inne oder wechseln im Vorbeigehen ein paar Worte. Poschiavo ist kein Ort, an dem der Zahn der Zeit nagt. Die Fassaden strahlen frisch; neu umgebaute Läden, einheimische Produkte in den Auslagen, herausgeputzte Hotels und ein schönes Museum signalisieren Wohlstand. Drei Bankfilialen finden sich in Poschiavo, auch ein Coop und ein Denner. Selbst deutlich grössere Dörfer im Mittelland wirken im Vergleich halbtot. Im Puschlav mit seinen etwas mehr als 4500 Einwohner:innen gibt es noch vier Metzgereien und fünf Bäckereien – trotz der Möglichkeit, im nahen Italien deutlich günstiger einzukaufen.
Auch das Angebot an Arbeitsplätzen ist erstaunlich, es sind 3000. Hier finden nicht nur Bauern, Ladenbesitzerinnen, Handwerker und Serviceangestellte ein Auskommen. Es gibt vergleichsweise grosse Unternehmen, auch mit Jobs für Hochqualifizierte im Angebot. In Poschiavo hat das Bündner Energieunternehmen Repower seinen Sitz, in Brusio produziert das Pharmaunternehmen Inforlife Grundstoffe für Medikamente, auch das Spital und die Rhätische Bahn sind bedeutende Arbeitgeber. Oder das Familienunternehmen Iseppi, das Gemüse und Obst produziert und damit handelt und schweizweit etwa hundert Arbeitsplätze bietet, die Hälfte davon in Brusio. Es gibt eine Berufsschule, eine Pastafabrik, eine Kommunikationsagentur, ein Vermessungsbüro und 77 Vollerwerbsbäuer:innen.
Das Steuerklima ist mild, und die Mieten sind tief. Ohnehin besitzt die überwiegende Mehrheit ein Haus. Die Durchschnittslöhne liegen zwar tiefer als im Mittelland, irgendwo zwischen 4500 und 5500 Franken. Aber die Lebenshaltungskosten sind so tief, dass genug für ein gutes Leben übrig bleibt. Ohne die 1200 italienischen Grenzgänger:innen und das nahe Oberengadin wäre die Wirtschaft des Tals allerdings aufgeschmissen.
Die Einwohner:innenzahl ist seit zwanzig Jahren stabil. Die Auftragsbücher im Bau- und Baunebengewerbe sind voll. Es sind sogar ein halbes Dutzend gut ausgebildete junge Puschlaver:innen zurückgekehrt und haben kleine Betriebe gegründet oder übernommen. Besonders der Tourismus entwickelt sich. 2015 übernachteten im Südtal pro Jahr 45 000 Besucher:innen, inzwischen sind es 80 000. «Wir hatten vor allem während Corona deutlich mehr Tourist:innen, vor allem aus der Region Zürich. Und diesen Aufschwung konnten wir nach der Pandemie halten», sagt Tourismusdirektor Kaspar Howald.
Holz für lombardisches Design
Seinen Anteil am Gedeihen des Tals hat Polo Poschiavo. Das Zentrum ging aus dem Regionalentwicklungsprojekt «Progetto Poschiavo» hervor, das sich Ende der neunziger Jahre mit der wirtschaftlichen Zukunft beschäftigte. Polo Poschiavo vermittelt digitale Kompetenzen, bietet Deutschkurse für Grenzgänger:innen an und initiiert Forschungsprojekte. Hier wurde 2004 mit «Il Bernina» eines der ersten Schweizer Onlinemedien angestossen. Der wohl bekannteste Ausdruck des Bemühens, Impulse ins Tal zu senden und direkt und indirekt neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist «100 % Valposchiavo»: Hundert Prozent der im Tal produzierten Lebensmittel sollen bio sein – es fehlen bloss noch wenige Prozentpunkte. Und der Gewinn soll im Puschlav bleiben. Das Tal arbeitet an einer geschlossenen Wertschöpfungskette zwischen Bäuer:innen, Gewerbe, Restaurants und Hotels. Dass eine ganze Region bio produziert, weckt weltweit Interesse. So bemühte sich auch schon eine Delegation aus Bhutan ins Puschlav.
Bald soll das Puschlav als «Smart Valley bio» gelabelt werden. Cassiano Luminati, der manchen im Tal als grosser Visionär gilt, wirkt dabei grenz- und staatenübergreifend, gewissermassen als Aussenminister, ständig auf der Suche nach neuen Ideen. Warum nicht «100 % Valposchiavo» auf die Holzverarbeitung ausweiten? «Wir haben Kontakte zum lokalen Schreinergewerbe und zu Holzdesignern in der Lombardei geknüpft. Und sind auf offene Ohren gestossen», sagt der Zentrumsdirektor. Auch der vor Jahren wieder aufgenommene Getreideanbau birgt Potenzial.
Findige Köpfe gab es im Puschlav lange vor Polo Poschiavo. Wer Ricola-Bonbons lutscht, schmeckt Puschlaver Biokräuter. Reto Raselli begann, von den Leuten skeptisch beäugt, Anfang der achtziger Jahre mit dem Kräuteranbau. Längst gehen Tonnen der würzigen Ware auch zu Coop. Die jüngste Frucht des Puschlaver Erfindergeists kann man an einem steilen Abhang über dem Dorf Campascio besichtigen. Auf Terrassen, auf denen einst in mühsamer Kleinarbeit Gemüse für die Oberengadiner Hotelküchen angebaut wurde, wachsen jetzt 350 Olivenbäume. Die ersten fünfzig Liter des kostbaren Öls sind gepresst.
Nicolò Paganini führt an diesem Tag Ende April eine Delegation aus dem Münstertal auf schmalen Fusswegen durchs Dorf zum Olivenhain. Tausend Liter des Bioöls sollen dereinst in den Verkauf gelangen. Als Paganini vor 22 Jahren den Betrieb seiner Eltern übernahm, stellte er von Gemüse- auf Beerenanbau um. Die Anbaufläche erweiterte er, indem er Besitzer:innen von brachliegenden Hausgärten für sich gewann. Darüber hinaus tüftelt er in seinem Unternehmen, das ganzjährig acht Angestellte und saisonal Beerenpflückerinnen aus dem Veltlin beschäftigt und auch auf bio umstellt, an weiteren Produkten. In seinem Sortiment gibt es neben Fruchtsäften und Konfitüren auch ein Puschlaver Ketchup.
Das alles erzählt er den Besucher:innen aus dem Münstertal, die ähnliche Ziele verfolgen, in einem geschmackvoll restaurierten Gebäude auf dem Betriebsgelände. Danach besichtigt die Delegation den Bioschlachthof von Michele Branchi und den Biobauernhof Döss da Prada der Familie Rossi-Cortesi, die sich mit einer hochmodernen Halle, in der tausend Hühner Bioeier legen, ein zusätzliches Standbein aufgebaut hat. Schliesslich versammelt sich die Delegation im Sporthotel Raselli zum Mittagessen. Natürlich gibt es Pizzoccheri aus lokal angebautem Buchweizen. Zum Schluss präsentiert Regionalentwickler Francesco Vassella die jüngste Innovation: Auf der digitalen Plattform «Mercato Valposchiavo» bieten Lebensmittelproduzent:innen ihre Produkte an, Läden oder Gastrobetriebe können sie mit einem Klick bestellen, ein lokaler Transportbetrieb liefert die Ware. Das erleichtert den Vertrieb und schafft auch noch neue Arbeitsplätze. Das Puschlav könnte damit neue Märkte in Chur und Zürich erschliessen – und weitere Impulse in die Welt hinaus senden.
* Korrigenda vom 15. Mai 2023: In der Print- sowie der früheren Onlineversion dieses Textes wurden die vor fünf Jahren verstorbenen Andy Rhis und Sergio Marchionne als Bewohner von Schindellegi bezeichnet. Wir bitten für den Fehler um Entschuldigung.