Zug im Steuerwettbewerb: «Wir müssen aufhören, nur auf uns zu schauen»
Der Kanton Zug will erneut seine Steuern senken. Dabei sind die sozialen Folgen der Tiefststeuerpolitik bereits jetzt bedenklich. Auch für einen so reichen Kanton gibt es immer mehr Gründe, die Steuersenkungsideologie infrage zu stellen.
«Willkommen im neuen Zug», sagt Stefan Gisler und breitet seine Arme aus. Der 43-jährige grün-alternative Zuger Kantonsrat, der in der Stadt aufgewachsen ist, steht auf einer Strassenkreuzung hinter dem Bahnhof. Um ihn herum ragen Glas- und Betonbauten in die Höhe. Mit Ausnahme einer kleinen Häuserzeile stammt kein einziges Gebäude mehr aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Auf der anderen Seite der Bahngleise – zum Seeufer hin – sieht es nicht anders aus. Im Gegenteil: Gleich neben dem neuen Eisstadion steht das höchste Haus der Stadt, das «Uptown». Der Klotz ist über sechzig Meter hoch und von ganz Zug aus sichtbar. «Büros für Dienstleistungsunternehmen und teure Wohnungen», fasst Gisler zusammen, worum es im «neuen Zug» geht, das sich vor allem nördlich des Bahnhofs in Richtung Baar erstreckt.
In diesem Stadtteil zeigt sich die Reichtumsspirale, die die jahrzehntelange Tiefststeuerpolitik des Kantons in Gang gesetzt hat. Eine Politik, die vorwiegend vermögende Personen angelockt hat. Und Holdinggesellschaften, die von der kantonalen Gewinnsteuer gänzlich befreit sind.
Die Stadt Zug ist heute einer der global wichtigsten Rohwarenhandelsplätze. In zahlreichen Rankings gelten Stadt und Kanton – national wie international – als attraktivste Standorte: Die Steuern sind hier tief, die Arbeitsmarktlage ist gut und die Sicherheit hoch. Hinzu kommt die schöne Landschaft mit See- und Bergpanorama. Keine Frage, Zug hat viele Trümpfe. Kein Wunder, dass die Kantonsregierung an ihrer «bewährten» Tiefststeuerpolitik festhält: Am kommenden Wochenende stimmen die Wahlberechtigten über eine erneute Steuergesetzrevision ab, die vor allem eine Senkung der Gewinnsteuer vorsieht.
Soziale und ökologische Folgen
Natürlich gibt es auch eine Schattenseite der Zuger Tiefststeuerpolitik. «Es ist praktisch unmöglich geworden, eine günstige Wohnung zu finden. Und zwar im ganzen Kanton», sagt Stefan Gisler. Die Durchschnittsmiete für eine Vierzimmerwohnung in der Stadt liege bei rund 2500 Franken. Ein Blick in einschlägige Onlineplattformen bestätigt Gislers Einschätzung.
Eine im April publizierte Studie der Credit Suisse über das frei verfügbare Einkommen der Menschen in den Kantonen zeigt die Folgen: Zug liegt dort nur auf dem 19. Platz. Die Studie kommt zum Schluss, dass der «reine Vergleich der Steuerbelastungen» die Tatsache vernachlässige, «dass etwa hohe Immobilienpreise in steuergünstigen Regionen grosse Teile der Steuerersparnis zunichte machen». Zug weise nach Genf landesweit die zweithöchsten Wohnkosten auf – betroffen seien besonders Geringverdienende und der Mittelstand.
«Die Folgen unserer Tiefststeuerpolitik schlagen sich in der Wanderungsstatistik nieder», sagt Stefan Gisler. Allein in den Jahren 2008 bis 2010 zogen über 2000 Menschen aus Zug in andere Kantone. «Einerseits solche, die auf günstige Wohnungen angewiesen sind, andererseits jene, die sich eine Eigentumswohnung oder ein Haus leisten möchten.» Hingegen sei ein starker Zuzug von reichen Personen vorwiegend aus dem Ausland auszumachen.
Gisler kritisiert, dass die Regierung diese Entwicklung kenne, aber nichts dagegen unternehme. «Es ist stossend, dass vor allem vermögende Personen und Unternehmen von unserer Wirtschafts- und Steuerpolitik profitieren», sagt Gisler. Den Auftrag, die sozialen Folgen dieser bewussten Politik abzufedern – etwa durch die Förderung von günstigem Wohnraum oder von Baugenossenschaften –, nehme die Kantonsregierung trotz vorhandener Ressourcen zu wenig wahr.
Nehmen die ZugerInnen am kommenden Wochenende die neue kantonale Steuergesetzrevision an, wird die Gewinnsteuer bis 2014 von 6,5 auf 5,75 Prozent sinken: ein Steuergeschenk von jährlich vierzig Millionen Franken. Zugleich sollen Familien und MieterInnen mit fünfzehn Millionen Franken entlastet werden.
Es wäre die vierte Steuersenkung innerhalb von zehn Jahren. Die Kapital- und die Vermögenssteuern sind bereits stark reduziert worden. Auch der sogenannte Mittelstand wurde zuletzt steuerlich entlastet, was im Kanton Zug bedeutet: Verheiratete mit einem Jahreseinkommen zwischen 80 000 und 200 000 Franken zahlen gut ein Drittel Steuern weniger. Stefan Gisler spricht von einem Etikettenschwindel: «Die von der Regierung definierte Zielgruppe entspricht dem oberen Mittelstand. Normal verdienende Handwerker, Verkäuferinnen oder Personen in Pflegeberufen profitieren hingegen wenig bis gar nicht von den Steuerentlastungen.» Im Gegensatz zur SP Zug hat Gislers Partei 2009 die damalige Steuersenkung bekämpft. «In unserem Tiefststeuerkanton die Steuern noch mehr zu senken, heizt den unsozialen Steuerwettbewerb in der Schweiz weiter an. Wir müssen endlich aufhören, nur auf uns selbst zu schauen.»
Im aktuellen Wahlkampf spannen die Grün-Alternativen und die kantonale SP nun wieder zusammen. Gemeinsam mit der Christlich-sozialen Partei und dem Gewerkschaftsbund stellen sie sich gegen die traditionell von den bürgerlichen Parteien unterstützte Steuersenkung.
Plötzlich schlagen Regierungen Alarm
Die politischen Fronten im Kanton Zug sind die alten. Neu sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Nach einem Boom in den letzten Jahren sind allmählich die Folgen der aktuellen Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden Frankenstärke spürbar. So ist momentan unklar, ob die Schweizerische Nationalbank (SNB) eine Gewinnausschüttung an die Kantone leisten wird. Für den Kanton Zug bedeutet das schlimmstenfalls 24 Millionen Franken weniger Einnahmen. Ausfälle verursacht zudem die Unternehmenssteuerreform II, ein Erbe von alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Nach bisheriger Einschätzung entgehen dem Kanton deswegen drei Millionen Franken, wie der Zuger Finanzdirektor Peter Hegglin (CVP) auf Anfrage der WOZ mitteilt.
Neben diesen Ausfällen ist der Kleinstkanton – nach Zürich und Genf – drittgrösster Nettozahler im Rahmen des nationalen Finanzausgleichs: 2012 muss Zug 262 Millionen Franken bezahlen, 22 Millionen mehr als dieses Jahr.
Das hat Auswirkungen auf das Budget: Rechnet der Kanton 2012 noch mit einem knappen Aufwandüberschuss, werden danach jährliche Defizite von über dreissig Millionen Franken erwartet. Finanzdirektor Hegglin, der Architekt der neusten Steuergesetzrevision, glaubt, dass seine Steuerstrategie – trotz des schwierigen Umfelds – aufgeht. «Wir können die Ausfälle verkraften, da wir zuletzt sehr gute Jahre mit Überschüssen von zum Teil über hundert Millionen Franken hatten. Unser Eigenkapital beträgt rund eine Milliarde Franken», sagt er. «Aber wir beobachten die Entwicklungen und werden notfalls korrigierend eingreifen.»
Längst nicht alle Kantone verfügen über ein solch solides Finanzpolster wie der Kanton Zug. Ausgerechnet im südlichen Nachbarkanton Luzern hat die Regierung eine Steuererhöhung beantragt. Noch vor drei Jahren hatte Luzerns Finanzdirektor Marcel Schwerzmann seinen Kanton auf eine Tiefststeuerpolitik eingeschworen: «Der Sinn einer Steuersenkung ist es schliesslich, dass man im Endeffekt mehr Geld einnimmt», liess er verlauten.
Selbst im Kanton Zug sind Steuererhöhungen angesichts der aktuellen finanzpolitischen Lage kein Tabu mehr. So hat die Zuger Stadtregierung, in der linke Parteien seit einem Jahr erstmals über die Mehrheit verfügen, Anfang November einen Steuerfusszuschlag vorgeschlagen: von 60 auf 65 Prozent. Wegen Investitionen «in den Wohnungsbau, in Schulhäuser sowie Alters- und Pflegeheime sowie in Strasseninfrastrukturen» von rund 85 Millionen Franken im kommenden Jahr. «Niemand macht gern Steuererhöhungen», sagt Ivo Romer (FDP), Finanzdirektor der Stadt Zug. Er kenne aber auch keinen Finanzchef, der gerne Schulden mache. Romer streicht heraus, dass rund 40 Prozent der städtischen Steuereinnahmen in den innerkantonalen Finanzausgleich fliessen.
Die Steuersenkungsideologie wird hingegen nicht hinterfragt, geschweige denn ihre sozialen Folgen. Ob im Kanton Luzern der bürgerliche Kantonsrat und in der Stadt Zug der ebenfalls bürgerliche Gemeinderat den Steuererhöhungen zustimmen, ist jedenfalls mehr als offen.
Gesucht: Der Meistbietende
Stefan Gisler wohnt im alten Zug, im sogenannten Dorf. So heisst das Quartier oberhalb des «Zytturms», des Wahrzeichens der Stadt. Die Sanierungs- und Aufwertungswelle hat das Dorf – im Gegensatz zum Rest der Stadt – noch kaum erreicht. «Wer weiss, wie lange ich noch hier bleiben kann?»
Gislers Frage ist ernst gemeint. Das Mehrfamilienhaus, in dem er mit seiner Familie wohnt, steht zum Verkauf. Zu einem hohen Preis. «Gewisse Kollegen aus dem Kantonsrat meinten, ich solle das Haus doch selbst kaufen. Für sie ist es völlig selbstverständlich, dass man sich das leisten kann. Dementsprechend machen sie Politik.»
Nachtrag von 1. Dezember 2011 : ZugerInnen bleiben sich treu
Das Zuger Stimmvolk trägt die Tiefststeuerpolitik der Kantonsregierung weiterhin mit: Am Wochenende stimmten 62 Prozent der Wahlberechtigten einer weiteren Steuersenkungsrunde zu – und damit Ertragseinbussen von über fünfzig Millionen Franken. Stefan Gisler von den Grün-Alternativen Zug zeigt sich trotz der Niederlage zufrieden: «Wir konnten weit über unser Wählerpotenzial hinaus mobilisieren. Noch nie haben so viele Menschen im Kanton Zug eine Steuergesetzrevision abgelehnt. Offenbar findet langsam ein Umdenken statt.»
Auch in der Zugersee-Gemeinde Risch haben die Wahlberechtigten Ja gesagt. Der Pharmamulti Novartis darf auf dem Gut Aabach direkt am Seeufer ein hundert Millionen Franken teures Ausbildungszentrum für seine Kaderleute bauen. Bruno Unternährer von Gleis 3 (lokaler Ableger der Grün-Alternativen Zug) ist enttäuscht, dass 57 Prozent dem Bebauungsplan und der Zonenplanänderung zustimmten. «Andererseits sind 43 Prozent Neinstimmen angesichts der geballten Übermacht, die uns gegenüberstand, ein Achtungserfolg.» Das letzte Wort sei noch nicht gesprochen, gibt sich Unternährer kämpferisch. Gemeinsam mit den beschwerdeberechtigten Organisationen WWF, Pro Natura und Stiftung Landschaftsschutz werde man Einsprache gegen das Ausbildungszentrum erheben: «Das Areal ist explizit eine Nichtbauzone. Der geplante Bau widerspricht dem kantonalen Richtplan und ist somit nicht zulässig.»
Jan Jirat