EU-Türkei-Deal: «Moria ist wie ein Gefängnis»
Seit vergangenem Montag werden Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Erste Eindrücke von der Insel Lesbos.
Kayhan sitzt am steinigen Strand gleich neben dem Hafen von Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos. Lange schaut er aufs Wasser hinaus. Am Horizont zeichnet sich die Türkei ab. Vor knapp einem Monat hatte der 26-Jährige, der seinen Nachnamen nicht nennen will, dort einem Schlepper 2000 Euro gezahlt. Er war in ein unsicheres Boot gestiegen, das ihn ins sichere Europa bringen sollte. Weil die sogenannte Balkanroute seit Wochen dicht ist, blieb Kayhan vorerst auf Lesbos. Nun hat er Angst, in die Türkei zurückgeschafft zu werden.
«Um ihre Abschiebung zu verhindern oder hinauszuzögern, haben inzwischen immer mehr Menschen in Griechenland Asyl beantragt», sagt Zacharoula Tsirigoti, Chefin der zuständigen griechischen Polizeibehörde. Vor der Schliessung der «Balkanroute» hätten das die meisten Geflüchteten vermieden, um auf eigene Faust in Richtung Nordeuropa weiterzureisen. Nun herrscht im abgeriegelten Flüchtlingslager Moria Panik. Allein am vergangenen Wochenende hätten von den etwa 3300 Flüchtlingen, die dort ausharren, 2870 Asylanträge gestellt, so Tsirigoti. Andere haben Angst davor, abgelehnt zu werden. Statt Asyl zu beantragen, verstecken sie sich.
Angst vor dem iranischen Regime
Hinter Kayhan stehen Dutzende Zelte am Strand. Flüchtlinge sitzen in mehreren kleinen Gruppen zusammen, einige haben sich auf Holzbänken niedergelassen. Betrieben wird das Camp von der Gruppe «No borders kitchen», die von mehreren AnarchistInnen – hauptsächlich aus Deutschland – ins Leben gerufen wurde. Zuerst hatten die AktivistInnen für Menschen entlang der «Balkanroute» gekocht. Im November 2015 kamen etwa zwanzig von ihnen nach Lesbos an den Strand von Tsamakia – vorerst, um dort Essen auszugeben. Nach und nach liessen sich dort Flüchtlinge nieder. Zu Beginn etwa fünfzig – die meisten aus Pakistan, Marokko und Algerien. In den letzten Wochen ist die Zahl auf etwa 350 angestiegen.
«Mittlerweile sind alle Nationen vertreten – Iraner, Afghanen, Ägypter, Iraker –, nur Syrer sind nicht anzutreffen», berichtet Benedikt, der neben Kayhan sitzt. Er kam vor gut zwei Monaten hierher, um zu helfen. «Ich habe gelesen, dass die Gruppe Unterstützung braucht», sagt der 27-jährige Münchner, der seinen Nachnamen nicht angeben möchte. Er sei nach dem Studienabschluss vor etwa acht Monaten mit dem Velo quer durch Europa gefahren – da war es für ihn selbstverständlich, auch einen Halt in Griechenland einzulegen. «Viele verstecken sich seit dem EU-Türkei-Beschluss im Camp, weil sie Angst vor der Abschiebung haben», so Benedikt. Kayhan nickt. «Am Montag wurden 202 Menschen deportiert», sagt er.
Bevor er hierher kam, lebte Kayhan im Lager der NGO Better days for Moria, das sich direkt neben dem offiziellen Flüchtlingslager Moria befand. Doch nach Inkrafttreten des Abkommens am 20. März sei die Polizei gekommen, habe gesagt, dass sich alle in Moria melden sollten. Ansonsten werde das Better-days-for-Moria-Lager am nächsten Tag mit Gewalt geräumt. «Seither ist Moria wie ein Gefängnis», sagt Kayhan und hält kurz inne. Keiner dürfe das Gelände verlassen. Er sucht nach Worten. «Ich habe meine Heimat verlassen, um endlich in Freiheit zu leben. Und jetzt werde ich in Europa eingesperrt?»
Unsichere Zukunft
Der studierte Musiker ist aus dem Iran geflohen, weil er die Unterdrückung durch das Regime nicht länger aushielt. «Du musst dort Muslim sein», sagt er. Er selbst sei jedoch Atheist. Kayhan lächelt leicht und senkt den Blick. Er habe eine AktivistInnengruppe gegen das Regime gegründet, an Demonstrationen teilgenommen. Irgendwann sei in seine Wohnung eingebrochen, sein Laptop mit zahlreichen regimekritischen Texten gestohlen worden. Kayhan sei klar gewesen, dass er auf der schwarzen Liste der Regierung stehe. «Also habe ich beschlossen zu gehen», sagt er. Auch, um seine Familie nicht zu gefährden.
In Griechenland hat Kayhan jedoch schlechte Bleibechancen. Zwar hat er das Recht, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Dazu müsste er jedoch nach Moria. «Ich habe Angst, dass meinem Gesuch nicht stattgegeben wird», sagt er. Dann wäre er in Moria gefangen, könnte deportiert werden. Daher verstecke er sich vorerst hier und warte ab. Als Moria noch offen war, habe er einem griechischen Anwalt seine Situation geschildert. «Der meinte nur, ich müsse meine Geschichte aufhübschen – das reiche nicht, um in die EU zu kommen», sagt Kayhan.
Es wird Abend. Benedikt steht in einem der grossen Zelte und schneidet Brot. Drei Pakistanis rühren in grossen Töpfen Reis und Sauce an. Ein weiterer kommt vorbei, fragt Benedikt, an wen er sich wenden könne. Drei seiner Freunde wollen Selbstmord begehen, sollten sie in die Türkei abgeschoben werden. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk wird alarmiert. «Das ist alles, was ich tun kann. Der Druck auf uns Helfer wächst enorm», seufzt Benedikt. Viele HelferInnen sind mit Situationen wie dieser überfordert. «Wir können ja nicht verantworten, dass sich jemand umbringt.» Er zuckt hilflos mit den Schultern und verschwindet hinter dem Tresen des Küchenzelts. Bald soll auch dieses Camp geräumt werden. «Ich weiss nicht, was ich dann mache, ehrlich nicht», sagt Kayhan, der in der Schlange vor der Essensausgabe steht. Keiner der Umstehenden hat eine Antwort.