Die SP und Europa: «Die EU-Gegner geben die Demokratie und die Zukunft auf»

Nr. 17 –

Der Bündner SP-Politiker Jon Pult gilt als die grosse Nachwuchshoffnung der SozialdemokratInnen. Im Interview kontert er Christian Levrats Taktieren und sagt, warum er die Bilateralen für ein Auslaufmodell hält und der EU-Beitritt unausweichlich ist.

Vorbild Rosa Luxemburg: Jon Pult.

WOZ: Jon Pult, Sie rufen Ihre Partei immer wieder dazu auf, beim Thema Europa in die Offensive zu gehen. Warum?
Jon Pult: Ich bin überzeugt, dass die Entwicklung Europas und unser Verhältnis zur EU die wichtigste Zukunftsfrage ist. Wenn wir nicht darüber sprechen, weil es Europa momentan schlecht geht und man Angst hat, Wähler zu vergraulen, nehmen wir die wichtigste Verantwortung als Partei nicht wahr: über das zu reden, was am relevantesten ist.

Ist die Frage so relevant? Die Schweiz wird doch auch so einen Weg finden, um ihre Wirtschaftsinteressen zu sichern …
Mittelfristig nicht. Es gibt in der Schweiz ein Tabu: Kaum jemand traut sich zu sagen, dass die bilateralen Verträge zur EU ein Auslaufmodell sind – selbst wenn man mit der EU eine einvernehmliche Lösung für die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative finden würde, was sehr unwahrscheinlich ist. Die Bilateralen veralten schrittweise. Darum versucht der Bundesrat ja, mit der EU ein Rahmenabkommen auszuhandeln, dank dessen die Bilateralen laufend angepasst werden könnten. Doch ist das wirklich die beste Lösung? Oder ist ein Vollbeitritt gescheiter?

Was spricht gegen ein Rahmenabkommen?
Natürlich ziehe ich ein Rahmenabkommen der Isolation vor. Doch damit würden wir definitiv zum EU-Passivmitglied. Wir wären noch stärker gezwungen, EU-Recht zu übernehmen, ohne es mitzugestalten. Als Mitglied der Europäischen Union hingegen könnten wir mitentscheiden. Nicht nur wir als Schweiz, sondern jeder einzelne Bürger mit seinen europäischen Gesinnungsgenossen.

Wollen Sie eine Debatte über den EU-Beitritt, oder wollen Sie den Beitritt?
Beides. Wir sollten die Frage angstfrei diskutieren, und gleichzeitig bin ich ein überzeugter Europäer – trotz der Krise, in der Europa steckt. Meine Zukunftsvision bleibt ein Kontinent, der zu einer demokratischen Föderation zusammenwächst. Die Alternative ist: mehr Nationalismus, mehr Chauvinismus und das Wiederhochziehen von Grenzen.

Warum sind Sie für eine EU?
Mein Grossvater hat als desertierter italienischer Offizier im Zweiten Weltkrieg die Gräuel des Faschismus miterlebt. Dieses Erbe hat mich zur Überzeugung gebracht, dass die Antwort auf den Nationalismus ein vereinigtes Europa ist. Ausserdem: Wir werden die grossen Fragen der kommenden Jahrzehnte nicht im Nationalstaat beantworten können.

Welche Fragen?
Der Klimawandel, die Migrationsfrage. Europa betreibt eine katastrophale Flüchtlingspolitik. Schuld haben aber weniger die EU-Institutionen als die Nationalstaaten. Wir brauchen in der Migrationspolitik nicht weniger Europa, sondern mehr. Eine weitere Frage ist, wie wir den globalisierten Kapitalismus zähmen. Den Standortwettbewerb kann man nur auf internationaler Ebene dämpfen.

Heute ist die EU eher ein autoritäres Gebilde, das etwa Griechenland Rosskuren diktiert …
Natürlich leidet die EU an einem Demokratiedefizit, aber dann muss man sie reformieren, nicht ihre Institutionen zerschlagen. Zumal das EU-Parlament und die EU-Kommission weniger das Problem sind als die Mitgliedstaaten. Gegen die EU zu sein, heisst, den Niedergang der Demokratie zu akzeptieren: Niemand kann im Ernst behaupten, dass die nationalen Demokratien dem globalen Markt noch etwas entgegensetzen können. Es bedeutet, die Idee aufzugeben, dass die Menschen ihre Zukunft selber in der Hand halten. Darum finde ich diese Antieuropahaltung so kleinmütig und letztlich perspektivlos.

Die SP verweist wie die Bürgerlichen vor allem auf die wirtschaftlichen Vorteile der Bilateralen. Nun, da ein europaweiter Arbeitsmarkt auch Verlierer schafft, gerät sie in Argumentationsnot.
Wirtschaftliche Öffnung allein kann kein linkes Programm sein, das stimmt. Allerdings sehe ich die Personenfreizügigkeit positiv. Ein gesamteuropäischer Arbeitsmarkt kann zwar mehr Lohndruck verursachen. Gleichzeitig können heute Griechinnen, Spanier oder Portugiesinnen ihr Glück in einem anderen EU-Land suchen. Und sie haben dort die gleichen Rechte wie die Einheimischen, nicht wie einst die Gastarbeiter, die als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Das ist eine riesige Errungenschaft.

Migration bedeutet auch, dass Menschen dem Kapital hinterherreisen müssen, das in steuerlich attraktive Länder abwandert.
Ja. Aber erstens ist es auch nicht schön, innerhalb der eigenen Landesgrenzen gefangen zu sein. Und zweitens gibt es auch ohne Personenfreizügigkeit Arbeitsmigration. Mit dem Unterschied, dass die Migranten keine Rechte haben. Soll das die Alternative sein?

SP-Parteipräsident Christian Levrat ist kürzlich in die Offensive gegangen. Die SP soll statt des EU-Beitritts nun den Beitritt zu einer Art EWR 2.0 fordern. Zufrieden?
Der Vorschlag hatte einen strategischen Zweck. Die Mehrheit der Bevölkerung will derzeit nicht in die EU. Deshalb hat die Parteileitung mit diesem EWR 2.0 einen Zwischenschritt vorgeschlagen, der akzeptabler erscheinen könnte. Ich bin skeptisch. Lieber würde ich den Menschen erklären, warum ein föderales und demokratisches Europa unser Ziel sein muss. Ganz falsch wäre, nun auch ins EU-Bashing einzustimmen. So würden wir das Geschäft der Nationalisten betreiben.

Sie werfen das Levrat vor?
Nein. Aber es gibt Leute in der SP, gerade bei den Jusos, die mit einer links angehauchten Anti-EU-Rhetorik den Isolationisten unfreiwillig in die Hände spielen. Das schmerzt.

Levrat versucht, etwas zu erreichen, indem er das Realistische fordert, Sie, indem Sie das Unmögliche fordern …
Die Sozialistin Rosa Luxemburg sagte, die revolutionärste aller Taten bestehe darin zu sagen, was ist. Wir müssen sagen, dass wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur in einem vereinten Europa meistern können. Es gibt also nur eines: Kämpfen für die Idee einer sozialen, demokratischen, europäischen Föderation.

Was heisst das, bezogen auf die Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative»?
Es muss alles getan werden, um die Personenfreizügigkeit zu retten.

Wie?
Es ist richtig, dass der Bundesrat den Auftrag der Initiative wahrnimmt und mit der EU die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln versucht. Gleichzeitig war es ein Fehler, früh durchblicken zu lassen, dass er im Fall eines Scheiterns gezwungen wäre, die Bilateralen etwa mit einer einseitigen Schutzklausel zu verletzen oder sie gar zu künden. Der Initiativtext fordert keine Kündigung. Und das Bundesgericht hat festgehalten, dass die Bilateralen dem Initiativtext übergeordnet sind. Der Bundesrat hätte klar machen müssen, dass er die Bilateralen weder verletzen noch künden wird. Der SVP hätte er sagen sollen: «Wollt ihr die Kündigung der Bilateralen, müsst ihr eine neue Initiative lancieren.» Da die EU kaum zu einem Kompromiss bereit sein wird, bleibt noch einiges zu tun.

Nämlich?
Es braucht Reformen, die dafür sorgen, dass der Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland kleiner wird. Das heisst: mehr Ausbildung und Integration der Ansässigen, weniger Steuerdumping und bessere Arbeitsbedingungen für alle. So nimmt die Einwanderung automatisch ab.

Damit wird aber ein demokratisch gefällter Entscheid nicht umgesetzt.
Das stimmt nicht ganz. Erstens hat das Volk nicht die Kündigung der Bilateralen beschlossen. Zweitens wurden sie mehrmals vom Volk bestätigt. Aber ja, man wird nochmals über die Bilateralen abstimmen müssen. Demokratisch ist das die sauberste Lösung.

Die SVP hat es letztlich geschafft, dass die SP mit ihren Vorschlägen zur Bremsung der Zuwanderung ihre Ziele übernommen hat.
Solange niemand diskriminiert wird, sehe ich kein Problem darin, das hiesige Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen und so den Bedarf an Einwanderung zu senken.

Die Forderung nach einem EU-Beitritt wird in Zukunft noch schwieriger. Mit den neuen PräsidentInnen Gerhard Pfister und Petra Gössi rücken CVP und FDP näher zur SVP.
Leider. Linke Politik heisst künftig, in der Bevölkerung neue Mehrheiten zu schaffen.

SP-Präsident Levrat scheint Politik als taktisches Spiel zu begreifen. Damit schafft man keine Mehrheiten …
Die Fixierung des Parteiapparats auf das Parlament in Bern ist ein Problem. Ich werfe diese Fixierung jedoch nicht einzelnen Leuten vor. Es ist ein strukturelles Problem: Die SP muss versuchen, vermehrt Politik mit den Kantonalparteien und den Sektionen vor Ort zu machen – in den Städten, den Agglomerationen und auf dem Land. Bei den Leuten halt.

Wie wollen Sie die Mehrheit der Leute von einem EU-Beitritt überzeugen?
Ich glaube an die Kraft der Argumente. In den letzten Jahren gab es kaum jemanden, der zu erklären versucht hat, warum Europa die bessere Perspektive ist als die Isolation. Wie überall in Europa rückt auch die Schweiz nach rechts. Wir haben darauf fast nur mit den Brot-und-Butter-Themen reagiert: faire Renten, gute Löhne, bezahlbares Wohnen. Dem rechten Kulturkampf hatten wir wenig entgegenzusetzen.

Allein mit Worten wird man den Nationalismus nicht aufhalten. Sein Nährboden sind die Ängste, die die entfesselte Wirtschaft schafft.
Die SP muss ihr Plädoyer für Europa, die Demokratie und die Personenfreizügigkeit mit der sozialen Frage verknüpfen. Ich sage: Die europäische Demokratie ist die einzige Hoffnung, um den Casinokapitalismus zu bändigen.

Levrats Nachfolger?

Jon Pult (31) war bis vor kurzem Präsident der Bündner SP, die er sieben Jahre lang leitete. Der Präsident der Alpeninitiative ist schweizerisch-italienischer Doppelbürger, hat in Zürich Geschichte studiert und arbeitet heute in einer Kommunikationsfirma.

Als zweiplatzierter Bündner bei den Nationalratswahlen dürfte er von einem allfälligen Rücktritt von Nationalrätin Silva Semadeni während der Legislatur profitieren. Jon Pult wird gar als möglicher Nachfolger von SP-Präsident Christian Levrat gehandelt.