Britannien und die EU: Linke Argumente für einen Brexit

Nr. 21 –

Es gibt viele gute Gründe, aus der EU auszusteigen. Dennoch sollten die BritInnen am 23. Juni gegen den Brexit votieren: Die Konservativen könnten sonst ihre neoliberalen Fantasien noch besser ausleben.

Die linke Begründung für einen Austritt Britanniens aus der Europäischen Union ist strategisch und klar: Die EU ist keine Demokratie – und kann dies auch nicht werden. Stattdessen bietet sie beste Bedingungen für monopolistische Unternehmen, Steuern hinterziehende Eliten und die organisierte Kriminalität. Erstens verfügt die EU über eine so mächtige Exekutive, dass sie beispielsweise die Linksregierung in Griechenland domestizieren konnte. Zweitens hat sie eine so schwache Legislative, dass diese ihre Gesetze nicht allein bestimmen und über öffentliche Dienste keine Kontrolle ausüben kann. Und drittens verfügt sie über eine Judikative, die das Streikrecht der ArbeiterInnen dem Recht der UnternehmerInnen unterordnet, damit diese ihren Geschäften «frei» nachgehen können.

Und dann gibt es noch die Europäische Zentralbank, die vertraglich verpflichtet ist, Deflation und Stagnation stärker zu gewichten als Wirtschaftswachstum. Staatliche Unterstützung für angeschlagene Industriezweige etwa ist verboten. Die Austerität, die wir in Britannien als politische Entscheidung belächeln, ist gemäss EU-Vertrag genauso wenig verhandelbar, wie es die wirtschaftlichen Prinzipien aus der Thatcher-Ära sind. Falls Jeremy Corbyn mit Labour an die Regierung käme, müsste er sein Manifest unter Missachtung des EU-Rechts umsetzen.

Es kommt noch schlimmer. Die europäischen Staats- und Regierungschefs wissen noch immer nicht, ob sie Griechenland im Juni in den Konkurs stürzen lassen. Sie haben immer noch keinen praktikablen Plan, wie sie die im vergangenen Sommer von Deutschland aufgenommenen Flüchtlinge verteilen wollen. Und nachdem sie die moralisch äusserst bedenkliche Abmachung mit der Türkei unterzeichnet haben, derzufolge die Flüchtlinge gar nicht erst nach Europa gelangen sollen, könnte dieser Deal nun platzen. Britannien behandelt seine MigrantInnen oft auch schlecht. Aber unsere Regierung können wir ersetzen – die EU-Regierung in Brüssel nicht.

Dies sind die grundsätzlichen linken Argumente, die für den Brexit sprechen. Es gibt aber einen zentralen Grund, dennoch gegen den Brexit zu votieren. Dieser lässt sich pragmatisch in zwei Worten ausdrücken: Boris Johnson.

Der falsche Zeitpunkt

Die konservative Rechte hätte die Austrittskampagne auf den Themen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Souveränität aufbauen können. Stattdessen versuchen Boris Johnson, der frühere Bürgermeister Londons, und der rechte Flügel der Tories, über das Brexit-Referendum zu einem ausgewachsenen Thatcherismus zurückzukehren: weniger Arbeitsregulierungen, niedrigere Löhne, weniger Beschränkungen für die Unternehmen. Wenn Britannien den Brexit wählt, dann stehen Johnson und Exbildungsminister Michael Gove bereit, um die Kontrolle über die Tory-Partei zu ergreifen und Britannien in eine Insel der neoliberalen Fantasien zu verwandeln.

Nach dem Austritt hätten sie zwei Jahre Zeit, um die Post-Brexit-Wirtschaft zu gestalten. Schlimmer noch: Die Tories könnten es ausnutzen, dass uns unsere Rechte als EU-BürgerInnen plötzlich fehlen – und die staatlichen Grundlagen Britanniens umgestalten. Der Mann, der die staatliche Kontrolle über die Bildung aus der Hand gab, und der Mann, der viele Quadratkilometer freien Landes in die Hände von Bauunternehmern schaufelte, würden die neue Machtbalance zwischen den BürgerInnen und dem Staat bestimmen können.

Deshalb ist es für diejenigen, die aus einer linken Überzeugung heraus den Brexit befürworten, besser, sich vorerst zurückzuhalten: Die Zeit, Europa mit linken Absichten zu konfrontieren, kommt erst, wenn Labour regiert – und die EU sich gegen diese Führung stellt.

Dank David Camerons Deal mit Brüssel besteht die eigentliche Wahl nur zwischen «Austritt» und «halbem Austritt». Die Zugeständnisse, die Cameron im März erreichte, sind nicht unbedeutend: Die Notbremse bei den Lohnergänzungsleistungen für MigrantInnen war zwar eine reaktionäre Effekthascherei, doch der Ausstieg vom Grundsatz der immer enger zusammenwachsenden Union war real. Vermutlich wird es deswegen nie mehr einen Vertrag zwischen allen 28 Mitgliedstaaten geben.

Während sich die Eurozone durch die Union der Banken und durch grenzüberschreitende Finanztransfers verstärkt, wird der Vertrag von Lissabon, der Grundlagenvertrag der EU, zunehmend von neuen, bilateralen Vereinbarungen zwischen den Kernmitgliedern untergraben. So wird Britannien wahrscheinlich bald in der Lage sein, sich legal von einigen Verpflichtungen des Lissabon-Vertrags zurückziehen. Die Beziehung Britanniens zur Eurozone wird daher in jedem Fall verhandelbar bleiben.

Die heimlichen Nazis

Diejenigen unter uns, die den Brexit wollen, um die Demokratie wieder einzuführen, um soziale Gerechtigkeit zu fördern und um Firmen der Rechtsstaatlichkeit zu unterstellen, müssen sich also noch etwas gedulden. Und dies, obschon der Preis, den wir zahlen, hoch ist.

Ungarn steht an der Schwelle zum Faschismus, die konservative französische Elite ist nicht weit davon entfernt, die Präsidentschaft an den Front National zu übergeben. In Österreich bestimmt die rechte FPÖ die Politik, und Geert Wilders’ virulent islamophobe PVV ist führend bei niederländischen Meinungsumfragen.

Das wirtschaftliche Scheitern der EU schürt Rassismus und stärkt die Ultrarechte. Boris Johnsons Vergleich der EU mit dem Dritten Reich war leichtsinnig. Ein besserer Vergleich wäre derjenige mit der Weimarer Republik: Das Scheitern einer angeschlagenen Demokratie ermöglichte den Aufstieg des Faschismus. Der Umschwung nach rechts aussen wirft uns auf das grundlegende Dilemma zurück: Will ich ein Teil der gleichen Wählerschaft sein wie Millionen von verkappten Nazis auf dem europäischen Festland?

In politischer Hinsicht gleicht die EU immer mehr einem manipulierten Staat: Die politisch unreife Wählerschaft Osteuropas wird ständig als angebliches Hindernis für Liberalismus und soziale Gerechtigkeit missbraucht. Auch wenn die politischen Bedingungen für einen linken Brexit heute noch nicht gegeben sind: Britannien sollte so bald als möglich aus der EU austreten.

Der Originalartikel wurde am 17. Mai auf www.theguardian.com publiziert.

Aus dem Englischen von Markus Spörndli.

Paul Mason

In seinem soeben im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buch «Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie» schreibt der linke britische Wirtschaftsjournalist Paul Mason (56), wie auf den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden könnte: Er entwirft eine Utopie, die einen Weg aus dieser Gesellschaftsordnung der deregulierten Märkte und des Konsumzwangs aufzeigt (siehe WOZ Nr. 16/2016 ). «Das Buch wird mit Sicherheit heftige Debatten auslösen – und zwar genau jene, die wir heute unbedingt führen müssen», kommentiert die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein.