Dokfilm «Tomorrow (Demain)»: Der Ausweg aus der Sackgasse

Nr. 21 –

Die Euphorie der ProtagonistInnen ist ansteckend: Der Dokumentarfilm von Cyril Dion und Mélanie Laurent zeigt Menschen, die mit kleinen Projekten die grossen ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Zeit zu lösen versuchen.

Ganz glücklich mit Gans: Nick Green, Mitinitiator und Gärtner der öffentlichen Gemeinschaftsgärten von Todmorden, England. Still aus «Tomorrow (Demain)»

Auf die Frage nach der Geburtsstunde ihres Werks haben die meisten FilmemacherInnen eine Antwort parat – selbst wenn sie kaum Spuren im Film hinterlassen hat. Nicht so im Fall des Dokumentarfilms «Tomorrow» von Cyril Dion und Mélanie Laurent. Dion, engagierter Umwelt- und Menschenrechtsaktivist, erlitt im Juni 2012 einen Zusammenbruch – just zum Zeitpunkt, als in der Fachzeitschrift «Nature» der bevorstehende Kollaps des weltweiten Ökosystems proklamiert wurde. «Keine Studie zuvor hatte je eine solche Wirkung auf mich», erinnert sich Dion. «Es war, als ginge mein eigener Zusammenbruch konform mit dem angekündigten Zusammenbruch der Gesellschaft.»

Die Umweltwissenschaftlerin Elizabeth Hadly und der Paläontologe Anthony Barnosky, der seit über dreissig Jahren die Auswirkungen von Klimaveränderungen auf die Evolution erforscht, zeigen in ihrer «Nature»-Studie, dass sich das globale Ökosystem einer Schwelle nähert, an der es irreversibel kippen wird. Spätestens in achtzig Jahren, vielleicht aber auch schon im Jahr 2025. Bevölkerungswachstum, Ressourcenverbrauch, Energiekonsum und Klimaerwärmung steuern alle auf diesen Punkt zu. Und der könnte erreicht werden, noch bevor die Hälfte der lokalen und regionalen Ökosysteme zusammenbricht. Ein Horrorszenario, das Hadly und Barnosky gleich zu Beginn im Film erläutern.

Menschen wie du und ich

Dass sie das auf einer lauschigen Parkbank im Grünen tun, gehört zum Programm des Films. Dion und Laurent ersparen dem Publikum die sattsam bekannten Bilder von zerstörten Regenwäldern, gigantischen Sojamonokulturen, überfluteten Elendsvierteln oder smogvernebelten Grossstädten. Im Gegenteil: Mit «Tomorrow» wollen sie den Ausweg aus der Sackgasse weisen – zeigen, wie man die Weichen für die Zukunft so stellen kann, dass die Schienen die Menschheit nicht zwangsläufig auf eine Wand zurasen lassen. Dazu haben sie auf der ganzen Welt nach bereits realisierten Ansätzen und Beispielen gesucht. Gefunden haben sie Menschen, die radikale Alternativen nicht nur zu denken gewagt, sondern gemeinsam mit anderen auch umgesetzt haben. Und diese Menschen, die ProtagonistInnen des Films, sind nicht etwa hochrangige und einflussreiche ExpertInnen – die meisten sind Menschen wie du und ich.

Da sind etwa all jene «urban farmers», die in gemeinsamer Anstrengung die zerfallenden Territorien in der ehemaligen Autostadt Detroit zu blühenden Gärten umfunktionieren und damit zeigen, wie Nahrungsmittel in einer Zeit, in der bald siebzig Prozent aller Menschen in Städten leben werden, wieder näher an die KonsumentInnen gebracht werden können. Oder das Aussteigerpärchen in der Normandie, das tausend Quadratmeter verödeten Boden mit permakultureller Landwirtschaft in einen hochproduktiven Garten Eden verwandelt hat, der sogar Kohlenstoff speichert – ganz ohne Öl, Pestizide oder motorisierte Hilfsgeräte.

In England treffen Dion und Laurent auf Menschen, die eine lokale Währung eingeführt haben – 21-Pfund-Noten oder 10-Pfund-Noten mit dem Konterfei von David Bowie –, um ein komplementäres Geldsystem aufzubauen. Dass es funktioniert, zeigt der Bürgermeister von Bristol, der sich sein Salär in der lokalen Währung auszahlen lässt. Und in Indien hat der Bürgermeister eines Dorfes beschlossen, seine Macht ganz basisdemokratisch mit der Gesamtbevölkerung zu teilen und die Kasten in den Armutsvierteln zu mischen – mit dem Resultat, dass sich seither alle an kommunalen Infrastrukturarbeiten beteiligen und die Lebensqualität merklich gestiegen ist.

Einfach die Ärmel hochkrempeln?

Natürlich sind das alles Einzelfälle. Aber verbreiten sich Stadtgärten, alternative Währungen und ähnliche Bottom-up-Projekte nicht überall auf der Welt in zunehmender Zahl? Dion und Laurent schaffen es, die porträtierten Alternativen aus den Bereichen Landwirtschaft, Energie, Ökonomie, Demokratie und Bildung zu einer neuen, grossen Erzählung zu verknüpfen. Mut macht dabei vor allem die Perspektive. Sie kommt radikal von unten und zeigt: Jede und jeder kann etwas tun, um die Katastrophe abzuwenden. Und was zunächst einer individuellen Initiative entsprang, wächst in der Gemeinschaft und entwickelt ein Veränderungspotenzial, das den lokalen Rahmen sprengt und regionales, nationales, ja globales Momentum entwickeln kann.

Der Film selbst ist das beste Beispiel dafür. Über 10 000 Menschen haben via Crowdfunding geholfen, ihn zu finanzieren. Seit seinem Kinostart verbreitet sich «Tomorrow» wie ein Lauffeuer – nicht nur durch Frankreich, wo er bereits den César für den besten Dokumentarfilm verliehen bekam. Auch in der Romandie füllt «Demain» seit mehr als zwanzig Wochen die Kinosäle. Mit über 100 000 ZuschauerInnen ist er der weitaus erfolgreichste Dokumentarfilm in der Westschweiz in diesem Jahrtausend.

Er habe «kleine Fackeln in den Menschen anzünden» wollen, sagt Dion. Offensichtlich ist ihm das geglückt. Auch wenn die Tonspur mit Refrains wie «Pull up your sleeve» reichlich nervt und die präsentierten Ansätze zur Lösung komplexer Probleme mitunter naiv anmuten – warum sich nicht von der Euphorie anstecken lassen und tatsächlich die Ärmel hochkrempeln?

Ab 26. Mai 2016 in den Kinos.

Tomorrow (Demain). Cyril Dion und Mélanie Laurent. Frankreich 2015