«Wir waren so blind» Die Dokumentarfilme von Svetlana Rodina und Laurent Stoop zeigen am Beispiel Russland, was man den wachsenden antidemokratischen Bewegungen entgegensetzen kann.

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Filmstill aus «Dom»: Katya sitzt auf einem Sofa
Am Ende von «Dom» sitzt sie in Armenien fest: Katya ist Koleiterin einer Unterkunft für russische politische Geflüchtete in der georgischen Hauptstadt Tbilissi. Still: DokLab

Mit ihrer Flucht nach Georgien gerade knapp einer Verhaftung in Russland entgangen, sind die jungen Bloggerinnen und Menschenrechtsaktivisten in ihrer Unterkunft in Tbilissi gleich wieder mit Sicherheitsfragen konfrontiert: Sie müssten damit rechnen, abgehört zu werden, Laptops und Handys könnten verwanzt sein, auch hier werde man versuchen, sie «zu verarschen». Und vielleicht noch wichtiger: Als Russ:innen seien sie kaum noch irgendwo willkommen.

«Dom» (Zuhause) heisst der neue Dokumentarfilm von Svetlana Rodina und Laurent Stoop. Das russisch-schweizerische Regieduo arbeitet seit sieben Jahren zusammen und ist auch ausserhalb der Arbeit ein Paar. Beide kennen Russland gut. Rodina wuchs in Kasan auf und hatte lange fürs russische Staatsfernsehen gearbeitet, bevor sie in Moskau Regie studierte. Stoop war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Fotograf für eine Zürcher Agentur nach Moskau gegangen und mehrere Jahre geblieben.

«Die Schweiz hatte 1992 gerade den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum abgelehnt», erinnert sich der Lausanner Regisseur und Kameramann im Gespräch in Duisburg, wo «Dom» im November die Filmwoche eröffnete. «Moskau dagegen war offen, aufregend und frei», ergänzt Rodina – «ganz im Gegenteil zu heute.» Natürlich sei alles auch sehr chaotisch gewesen, und die Mehrheit der Bevölkerung habe es schwer gehabt, sich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Aber sie hätten wirklich gedacht, so Rodina, «dass sich die Demokratie in Russland entwickeln, dass aus all diesen freien Köpfen und aufregenden Ideen eine offene Gesellschaft entstehen würde». Doch stattdessen wuchs «dieses Monster, Putins Russland» heran.

Svetlana Rodina und Laurent Stoop
Auch privat ein Paar: Svetlana Rodina und Laurent Stoop. Foto: Gleb Zayarskiy

Angst vor Spitzeln

Besonders Rodina traf die russische Vollinvasion der Ukraine wie ein Schock. Sie habe sofort das Bedürfnis gehabt, etwas gegen den Krieg zu unternehmen und sich mit anderen Betroffenen über ihre Schuldgefühle auszutauschen, die sich zu einer veritablen Identitätskrise ausgewachsen hätten. Was bedeutet es jetzt, «Russin» zu sein? Die nationale Identität, von der sie geglaubt habe, sie längst durch so etwas wie Weltbürger:innentum ersetzt zu haben, sei als eine Art Schuldeingeständnis zu ihr zurückgekehrt. «Die deutsche Erfahrung» nennt das ein Aktivist im Film.

Die Bewohner:innen der Unterkunft für russische politische Geflüchtete in Tbilissi, die «Dom» porträtiert, teilen diese Erfahrung. Für sie ist sie existenziell. In Russland verfolgt, im Ausland weitgehend unerwünscht, bleibt ihnen nur die Solidarität untereinander – und selbst die sei riskant, ermahnt Katya aus dem Leitungsteam der Einrichtung die Neuankömmlinge: Egal wie «nett oder unglücklich» jemand wirke, alle müssten erst kontrolliert werden, bevor sie ins Haus dürften.

Jeden Tag kommen mehr Leute mit immer noch düstereren Nachrichten aus der Heimat an: willkürliche Verhaftungen, Folter, dubiose Todesfälle. Jede:r kann als «ausländische:r Agent:in» eingestuft und verfolgt werden. Als die «Teilmobilmachung» zusätzlich Tausende junge Russen über die Grenze treibt, wird es eng im Haus, die Angst vor Spitzeln wächst.

Über ein Jahr haben Rodina und Stoop die Bewohner:innen der Unterkunft begleitet. Alle hatten gehofft, dass aus dem losen Netzwerk eine Bewegung entstehen würde, die sich positiv auf die Situation der russischen Oppositionellen inner- und ausserhalb Russlands auswirken könnte. Aber die Leute waren erschöpft, zum Teil traumatisiert von Gefängnis- und Fluchterfahrungen und der zermürbenden Asylsituation. Selbst Katya muss Georgien regelmässig verlassen, um ihre Aufenthaltsgenehmigung zu erneuern. Am Ende sitzt sie in Armenien fest, weil Georgien ihr die Wiedereinreise verweigert.

«Auch wir kämpfen gegen diesen Krieg und nicht um unsere Anerkennung», erklärt die Aktivistin resigniert in die Kamera. Man könne die russische Bevölkerung nicht einfach ignorieren und pauschal verteufeln, ohne zu riskieren, dass sich Millionen von ihnen in eine «Armee von Orks» verwandelten, die erst recht alles und jede:n angreifen werde, weil sie um sich herum nur noch Feinde sehe. Man kann das Monster nicht mit dem Gift bekämpfen, das es gross gemacht hat – so könnte man die Botschaft von «Dom» zusammenfassen.

Putins Insel

Wie die Mehrheit der russischen Gesellschaft mit dem Gift von Stigmatisierungen und nationalistischen Ressentiments gezielt auf den Krieg vorbereitet wurde, zeigt der erste gemeinsame Film von Rodina und Stoop: «Ostrov. Die verlorene Insel» (2021). Nur war das damals noch kaum jemandem bewusst. Der Film porträtiert ein putingläubiges Russland am untersten Ende der Gesellschaft: eine sich selbst überlassene Insel im Kaspischen Meer, wo die Zeit seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion stehen geblieben zu sein scheint.

Die Inselbevölkerung lebte früher vom Kaviarverkauf aus dem Störfang, der heute verboten ist. Seit die Fischer ihre Lizenz verloren haben, fahren die wenigen, die geblieben sind, illegal raus, in der ständigen Angst, erwischt zu werden. Iwans Familie ist hochverschuldet, sein Haus ist mit Brettern, Wellblech und Plastikplanen notdürftig zusammengeflickt, das Wasser kommt aus dem Brunnen hinterm Haus. Nur der Fernseher funktioniert reibungslos, sofern der Benzingenerator läuft.

Filmstill aus «Ostrov»: drei Kinder und ein Mann mit einem Motorad vor einem Denkmal
Unbewusst die Einstimmung auf den Krieg festgehalten: «Ostrov». Still: DokLab

Darin warnen die Nachrichten vor der steigenden Zahl «ukrainischer Neonazis», und Putin tritt in einer Unterhaltungsshow als Rächer der Armen und Vergessenen auf. «Unbesiegbar» seien sie, «die Russen», triumphiert Iwan kurz darauf am «Tag des Sieges», dem Feiertag zum Ende des Zweiten Weltkriegs, vor dem extra für die Feierlichkeiten patriotisch aufgehübschten Gefallenendenkmal der Inselgemeinde.

Als «Ostrov» 2021 in die Schweizer Kinos kam, betrachtete man den Film vor allem als Metapher für die zunehmende ideologische Isolation Russlands oder «für den Gemütszustand der russischen Gesellschaft abseits der Grossstädte», wie die NZZ schrieb. Die heute so offensichtlich erscheinende Einstimmung auf den Krieg – «wir hatten sie dokumentiert und sahen sie trotzdem nicht», gestehen Rodina und Stoop, immer noch erstaunt über die allgemeine Verdrängungsleistung. «So blind» seien sie gewesen, dass sie sich am Ende sogar ein bisschen über die Einberufung von Iwans Sohn in die Armee gefreut hätten. Auch sie dachten, dass der Junge dadurch endlich eine Perspektive bekomme.

Tinnitus auf der Tonspur

Rodina und Stoop leben heute in der Schweiz. Nach Russland können sie nicht mehr, das wäre zu riskant. ­«Direkt und immersiv», so beschreiben sie ihre Filme, mit denen sie die gefährlichen Entwicklungen in den einstigen Ostblockländern weiterhin dokumentieren wollen: Präsent sein, ohne in den Prozess einzugreifen, keine Erklärungen, keine Interviews – der Fokus liege auf den Emotionen.

«Dom» zum Beispiel erzeugt eine Art U-Boot-Stimmung. Zu einem tinnitusartigen Flirren auf der Tonspur rückt die Kamera ganz nah an Gesichter, Hände, Tische und Bildschirme heran, um die psychische Verfassung der Geflüchteten zu verdeutlichen: physisch in Tbilissi, mental aber noch in Russland zu sein. In «Ostrov», ausgezeichnet mit dem Schweizer Filmpreis, ist es umgekehrt: Weitwinkeleinstellungen verleihen der öden Insel die von ihren Bewohner:innen imaginierte Grösse und Kraft.

Einen solchen Stilwillen kann man mögen oder nicht. Als Gemütsanalysen zweier sehr unterschiedlicher Seiten der russischen Gesellschaft sind «Ostrov» und «Dom», der in Solothurn im Wettbewerb um den Prix de Soleure läuft, in jedem Fall kluge Bereicherungen der Debatte über die Ursachen der überall wachsenden antidemokratischen Bewegungen. In Zeiten selbstgerechter Sündenbockreflexe erinnern sie eindringlich und selbstkritisch an die wohl wichtigste Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie: das Recht auf Würde und Solidarität, unabhängig von nationaler Zugehörigkeit.

«Dom» in: Solothurn, Landhaus, Sa, 25. Januar 2025, 20.15 Uhr, und Konzertsaal, Di, 28. Januar 2025, 9.15 Uhr.

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