Agrarökologie: Viel mehr als Bio

Nr. 50 –

Agrarökologie kann vieles bedeuten: im Kollektiv selbstgebaute Maschinen und revolutionäre Ideen verbinden, die Ausbildung zur Gemüsegärtnerin selbst organisieren oder neue Kooperationen zwischen Stadt und Land entwickeln. Besuche bei einer Bewegung, die viel vorhat.

Agrarökologische Fläche mit Teich und Hecke
Speichert Wasser, fördert Wildtiere, schützt vor Wind, gibt Schatten und liefert Weidenzweige und Bärlauch: Im agrarökologischen Denken gehören auch Ökosysteme wie dieser Teich mit seiner Hecke zur Landwirtschaft.

Eine Motorhacke sieht nicht gefährlich aus. Eine kleine Maschine für den Gemüsebau, die man vor sich herschiebt wie einen Rasenmäher. Trotzdem ist Victor Bovy nicht gut auf Motorhacken zu sprechen. «Ein Kollege ist druntergekommen und schwer verletzt worden.» Die rotierende Messerwalze, die den Boden lockert, war frisch geschliffen.

Bovy baut in Morges am Genfersee Gemüse an, und er hat eine Alternative. Auch dieses Gerät hat eine Messerwalze, aber keinen Motor. «Es braucht keinen Diesel, macht keinen Lärm, ist leicht und nicht gefährlich.» Und das Beste: Man kann es selber bauen.

Das ist dem Atelier Paysan zu verdanken. Die französische Genossenschaft zeigt Landwirten und Gemüsegärtnerinnen, wie sie Maschinen und Geräte selbst herstellen können. Nicht nur Handwerkzeug, sondern auch hochkomplexe Hack- und Sämaschinen für die Arbeit mit dem Traktor oder dem Zugpferd, ganze Remisen oder einen Brotbackofen. Das Atelier Paysan entwickelt sie selbst und stellt Open-Source-Baupläne ins Internet. «Jedes Jahr besuchen etwa 700 Leute unsere Kurse», erzählt Agathe Demathieu, eine von sieben Angestellten der Genossenschaft. Sie gehört zur technischen Equipe, entwickelt und überholt Maschinen. Zusammen mit ihrem Kollegen Hugo Persillet ist sie an diesem strahlenden Spätherbsttag nach Morges gekommen, um von ihrer Arbeit zu berichten. Das Atelier, das wird schnell klar, ist kein Klub von bastelnden Nerds, sondern eine politische Organisation. «Unser Ziel ist es, gegen die industrielle Landwirtschaft zu kämpfen», sagt Demathieu. «Autonomie in der Technik ist ein Mittel dafür.»

«Wären die Bauern autonomer, gäbe es viel mehr Arbeiterstreiks.»
Hugo Persillet, Atelier Paysan

Dann legt Hugo Persillet los. Er komme nicht aus der Landwirtschaft, sein Bereich sei die «éducation populaire», sagt er. Tatsächlich hört er sich wie ein Redner in der Tradition der Französischen Revolution an, eloquent und ausdauernd. «Die Landmaschinen sind der tote Winkel in der Kritik an der Agroindustrie. Es gibt viel Forschung und politische Arbeit über Pestizide und Saatgut – über Maschinen fast nichts.» Das will das Atelier Paysan ändern. «Technik ist nicht neutral. Die meisten Fragen sind politisch. Aber man verkauft sie uns als technische Probleme.» Das Ziel der Industrie sei der Hof ohne Bauern: total automatisiert und digitalisiert. Die Vision des Atelier Paysan geht in die entgegengesetzte Richtung – und weit über die Landwirtschaft hinaus: «Wären die Bauern autonomer, gäbe es viel mehr Arbeiterstreiks. Die Bauern würden den Widerstand ernähren.»


Der Anlass in Morges gehört zu den «Tagen der Agrarökologie», die diesen Herbst das zweite Mal stattfanden: Dutzende von Veranstaltungen in allen Teilen der Schweiz. «Agrarökologie» ist der Begriff der Stunde, wenn es um Alternativen zur Agrarindustrie geht. Doch er ist gar nicht so leicht zu fassen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung ist Agrarökologie eine Wissenschaft, die untersucht, wie die Landwirtschaft Ökosysteme bildet und beeinflusst. Doch Ende des 20. Jahrhunderts begannen sich Bewegungen im Globalen Süden den Begriff anzueignen. So berufen sich etwa die globale kleinbäuerliche Bewegung La Via Campesina und die brasilianische Landlosenbewegung MST auf Agrarökologie. Sie propagieren eine Praxis, die sich am Biolandbau orientiert, aber oft auf Labels verzichtet. Denn zertifizierte Bioproduktion heisst im Globalen Süden vor allem: für den Export.

Inzwischen setzen auch viele Hilfswerke und die Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO auf Agrarökologie. Olivier De Schutter, ehemaliger Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, lobt sie ausdrücklich: Agrarökologische Methoden seien wegen geschlossener Kreisläufe umweltfreundlich, ressourceneffizient und günstig, brächten würdige Jobs aufs Land und gesunde Nahrung zu den Leuten – im Norden wie im Süden.

Folientunnel auf dem Gelände von Marcelin bei Morges
Folientunnel auf dem Gelände von Marcelin bei Morges: Auch Agrarökolog:innen kommen nicht ganz ohne Plastik aus.

Die agrarökologische Bewegung scheint überall dazwischen zu stehen: zwischen Forschung und Praxis, Stadt und Land, linken Bewegungen und bäuerlicher Tradition. Und gerade deshalb verbindet sie so viel. Victor Bovys Projekte sind ein gutes Beispiel dafür. Einerseits führt er mit seinem Vater den elterlichen Betrieb in Longirod am Fuss des Waadtländer Jura. Andererseits gehört er zum Team, das auf dem Gelände der Landwirtschaftsfachschule Marcelin in Morges die Gemüsefelder pflegt, die verwildert waren. Heute wachsen prächtige Tomaten und Auberginen in den Gemüsetunnels, Salat und Krautstiel auf den Feldern, daneben Feigenbäume – das Klima ist mild am Genfersee. Ganz anders als oben im Jura, wo Bovy einen Teil der Ernte verkauft: «Wenn im Vallée de Joux noch Schnee liegt und wir mit dem ersten Frühlingsgemüse kommen, sind die Leute wunderbar zufrieden!»

Agrarökologische Elemente prägen die Gemüsefelder in Morges. Zum Beispiel ein Teich, umgeben von einer dichten Weidenhecke. «Der Teich speichert Feuchtigkeit, die Hecke schützt vor Wind, die Weidenäste brauchen wir im Garten, oder ich gebe sie den Schweinen und Schafen in Longirod zum Nagen», zählt Bovy auf. Und nicht zu vergessen: «Wenn die Sommer jetzt immer heisser werden, ist es toll, gleich neben dem Feld einen Schattenplatz zu haben.» Am Teich hat Bovy Bärlauch zum Ernten und Engelwurz für die Biodiversität gepflanzt. Letztere hat sein Vater allerdings ausgerissen, als er jäten half. Er hielt sie für Unkraut.


Nicht nur beim Werkzeug lässt sich Bovy vom Atelier Paysan inspirieren: Er hat auch einen mobilen Gemüsetunnel gebaut, der auf rezyklierten Autobahnleitplanken steht und sich verschieben lässt. Und er schwärmt von Qrop, dem digitalen Open-Source-Gemüsebautool des Ateliers. «Es hilft unglaublich viel: die Arbeit und die Beete zu planen, die richtige Anzahl Setzlinge zu bestellen – revolutionär!»

Was auch zur Philosophie der Agrarökologie gehört, aber unter Bauern immer noch unüblich ist: Bovy spricht offen über die hohe Arbeitsbelastung in der Branche. «Vorher arbeitete ich in Genf an einer Fachhochschule, hatte Freizeit und Freunde in der Stadt. Der Einstieg auf dem Hof in Longirod war ein brutaler Bruch.»

Es geht um das grosse Bild, nicht um den eigenen, ideologisch perfekten Garten.

Ganz in der Nähe des Schulgeländes von Marcelin, zwischen Rebbergen und einem kleinen bewaldeten Tal, liegt ein Pionierprojekt, in dem noch radikaler versucht wird, agrarökologische Prinzipien umzusetzen: der Biodiverger. Das Wort ist zusammengesetzt aus «Obstgarten» (verger) und «Biodiversität». Die auf vielen Höfen übliche Trennung – da werden auf grossen Feldern Lebensmittel produziert, dort hat es ein paar Nischen für Wildpflanzen und Insekten – ist hier aufgehoben. Zwischen einer Hecke und Obstbäumen wächst Salat, Bienen wuseln auf zitronengelb blühenden Senfpflanzen herum. Holz- und Steinhaufen sollen Schlangen und Hermeline anlocken. Auf dem Gelände lässt sich nicht nur Verschiedenes ernten, es ist auch umwerfend schön.

Victor Bovy ist nicht zuständig für den Biodiverger, aber hat hier auch schon mitgearbeitet. Der Waldgarten im unteren Teil, wo Kaki-, Nashi- und andere Sträucher enger stehen, funktioniere nicht so gut. «Hier sollen sich ein- und mehrjährige Pflanzen ergänzen; Sträucher, Heilpflanzen und Gemüse. Das System wurde in den Tropen entwickelt und ist dort hochproduktiv, aber lässt sich nicht einfach nach Europa exportieren.» Bis jetzt sei der Ertrag der unteren Parzelle nicht hoch.


«Wie heisst die Person nochmals?» – «Mina Hofstetter.» Fünfzehn Menschen sitzen an diesem Novembertag im Halbkreis in einem ziemlich kalten Raum auf dem Demeter-Hof Gut Rheinau im Zürcher Weinland. Sie tragen Wollpullover, Faserpelze, Arbeitshosen und wuschelige Do-it-yourself-Frisuren. Ein junger Mann stellt das Konzept «biovegane Landwirtschaft» vor – eine Form des Biolandbaus, die ohne Nutztiere auskommt und von der Schweizer Biopionierin Mina Hofstetter (1883–1967) mitentwickelt wurde.

Die Gruppe ist in der Ausbildung in ökologischem Gemüsebau – selbstorganisiert. So heisst sie auch, auf Französisch: Formation autogérée de maraîchage écologique, kurz F.A.M.E. Deutschschweizer:innen und Romand:es nehmen teil, bei Bedarf wird übersetzt. Die meisten sagen Fa-me – wie Hunger auf Italienisch –, manche sprechen es englisch aus – wie Ruhm und Ehre, wie das Musical. Und wer dem ersten F.A.M.E.-Jahrgang einen Vormittag lang zuhört, muss sagen: Etwas «fame» haben sie tatsächlich verdient.

selbstgebautes landwirtschaftliches Gerät der französischen Genossenschaft L’Atelier Paysan
Die Autonomie über die Technik zurückholen: Die französische Genossenschaft L’Atelier Paysan zeigt Landwirt:innen, wie sie Geräte und Maschinen selbst bauen können.

Gemüsegärtner:in ist ein Lehrberuf, die Berufsschule liegt in Ins im Berner Seeland. Und auf den grossflächigen, industrialisierten Gemüsebau wie im Seeland sei die Ausbildung auch ausgerichtet, kritisiert eine F.A.M.E.-Teilnehmerin stellvertretend für viele: «Es gibt keine offizielle Gemüsebauausbildung, die den Ansprüchen von klein strukturierten, vielfältigen Betrieben genügt und viel Wert auf einen guten Umgang mit dem Boden legt.» Auch soziale Fragen fehlten in der Lehre völlig.

Die F.A.M.E.-Ausbildung dauert zwei Jahre. Dabei arbeiten die Teilnehmer:innen mindestens sechzig Prozent auf einem Gemüsebaubetrieb und besuchen im Winter zehn Theorieseminare. «Selbstorganisiert» ist ernst gemeint: Wer mitmacht, beteiligt sich an mindestens einer der zehn Arbeitsgruppen, vom Schulstoff über Finanzen bis Kommunikation. Neben externen Fachleuten referieren auch Teilnehmer:innen an den Theorieseminaren. So wie hier in Rheinau, wo F.A.M.E. für eine Woche zu Gast ist. Auf der anderen Strassenseite stehen bunt gescheckte Kühe in einem modernen Offenstall.

Nach dem Input vertiefen sich die Lernenden in Zweiergruppen in verschiedene Anbausysteme. Dann kommen sie wieder zusammen und stellen ihre Ergebnisse vor. Ein Duo würdigt die Integrierte Produktion (IP), obwohl dieser Standard, der nicht auf Pestizide verzichtet, hier niemandem weit genug geht. Aber es sei positiv zu werten, dass eine Gruppe von Landwirt:innen selbst entschieden habe, wie sie wirtschaften wolle. Die nächste Zweiergruppe lobt Demeter für den guten Umgang mit den Tieren und die Zeit, die sich biodynamische Bäuer:innen für die Beobachtung nehmen, kritisiert den anthroposophisch inspirierten Biolandbau aber auch als ideologisch und konservativ. Recht heftig fällt die Beurteilung der Permakultur aus – der Bewegung, die wunderschöne Agrarlandschaften schafft, aber politisch seltsame Blüten treibt (siehe WOZ Nr. 5/19). Die Szene neige zu verkürzter Kapitalismuskritik und sei offen für Prepper:innen. «Die Kurse sind teuer und funktionieren wie ein Schneeballsystem.» Und – selbstkritische Randbemerkung: «Sie ziehen privilegierte weisse Menschen wie uns an.» In der anschliessenden Diskussion geht es auch um den Vorwurf, dass Permakultur kolonialistisch sei, weil sie traditionelle Praktiken aus den Tropen als neu verkaufe.

Spätestens hier wird klar: F.A.M.E. ist ein politisch hochbewusstes Projekt und grenzt sich – anders als Teile der Permakulturszene – klar gegen rechts ab. Geschlechterrollen in der Landwirtschaft sind genauso ein Thema wie die Frage, wem das Land gehört. Und auf dem Büchertisch liegen neben dem dicken Band mit den Biorichtlinien, Fachliteratur über den Boden und «Gärtnern nach dem Mond» auch Bücher über Rechtsextreme im Biolandbau und «Der ewige Faschismus» von Umberto Eco.

«Biodiverger» in Morges: gleichzeitig Anbaufläche und «Ökofläche»
Gegen die Trennung von Anbau und «Ökoflächen»: Der «Biodiverger» in Morges ist gleichzeitig produktiv, biodivers und umwerfend schön.

«Ich finde es wichtig, dass man nicht eine einzelne Anbauform verdammt – und wenn man es doch macht, sollte man gut überlegen, warum», sagt der Referent am Schluss. Seine Sorge ist unbegründet: Die Teilnehmer:innen argumentieren enorm differenziert. Die Diskussion ist ein ständiges Suchen nach Andockstellen, Zugängen, Möglichkeiten, die gesamte Ernährungskultur zu verändern. Hier geht es um das grosse Bild, nicht um den eigenen, ideologisch perfekten Garten.

«Wir sind Auszubildende, keine Praktikant:innen!» Das ist F.A.M.E. wichtig. Praktikant:innen würden oft vor allem für einfache Arbeiten eingesetzt, sagt ein junger Mann, «Jäten und Hacken. Wir möchten aber auch eine Einführung in die Arbeit mit den Maschinen. Wir wollen alles lernen, was zum Beruf gehört.» Schulzeit soll Arbeitszeit sein wie in einer offiziellen Lehre.

F.A.M.E. ist keine anerkannte Ausbildung. Darum haben die Teilnehmer:innen auch keinen Anspruch auf Direktzahlungen, wenn sie im Frühling 2023 abschliessen. Doch im Gemüsebau sei der Anteil der Direktzahlungen am Einkommen sowieso nicht hoch, sagt ein Teilnehmer. Und wer genug praktische Erfahrung nachweise, könne sich für die offizielle Abschlussprüfung anmelden.

Im Frühling beginnt der zweite F.A.M.E.-Jahrgang seine Ausbildung. Einige, die dann abschliessen, werden in den Arbeitsgruppen bleiben, damit der Erfahrungsaustausch weitergeht. F.A.M.E. ist auf der Suche nach Spenden, denn die Ausbildung soll für alle offen sein, unabhängig vom Geld.


«Agrarökologie ist nicht dogmatisch», sagt Julia Huber, die auf dem Gut Rheinau im Gemüsebau arbeitet. «Es ist keine Identität, sondern ein Zugang. Etwas zum Anwenden.»

Früher lebte sie in Zürich, studierte Sozialanthropologie, arbeitete bei der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ), war in feministischen und antirassistischen Bewegungen aktiv. Da kam eines Tages ihre Freundin Harika Jakob auf sie zu: «Julia, wir brauchen eine Weisse, die zusammen mit uns mit den Weissen streitet.» Es ging um einen Gemeinschaftsgarten: «Schweizer:innen erklärten Geflüchteten, wie das richtig geht mit dem Gärtnern. Uns ging es aber darum, das Wissen von allen abzuholen – alle hatten etwas zu lernen und zu lehren.» Huber stritt mit – und blieb im Garten.

Jakob liess sich zur Köchin ausbilden. «Also war klar, dass noch jemand professionell Gemüse anbauen lernen musste.» Die beiden wollten Lebensmittel vom Acker bis auf den Teller begleiten und so Arbeitsplätze schaffen, insbesondere für Migrantinnen: «Viele haben so prekäre Jobs, dass sie daneben keine politische Arbeit machen können.» Doch bald merkten sie, dass das Einmachen von so kleinen Mengen ein Verlustgeschäft war.

Mittagspicknick am Treffen mit dem Atelier Paysan
Austausch, Geselligkeit und soziale Fragen sind ein wichtiger Teil der Agrarökologie: Zum Mittagspicknick am Treffen mit dem Atelier Paysan haben alle etwas mitgebracht.

Auf der Suche nach einem Praktikum lernte Huber in Rheinau den Landwirt David Jacobsen kennen. Sie ging schnuppern – und stieg gleich ein. «Als ich im Januar 2018 nach Rheinau zog, dachte ich, jetzt müsse ich mich verabschieden von den sozialen Fragen, die mich in der Stadt beschäftigt hatten. Aber es ging genau gleich weiter! Ich traf etwa eine Rumänin, die mir erzählte, was sie auf anderen Betrieben erlebt hatte. Mir war nicht bewusst, wie viel Ausbeutung es hierzulande in der Landwirtschaft gibt. Das geht bis zu Menschenhandel.»

In Jacobsen fand sie einen Mitstreiter, der wie sie über das Gemüsefeld hinausdenken wollte. Die beiden vernetzten sich, etwa mit dem Bioladennetzwerk Bachser Märt, und entwickelten ein Pilotprojekt: den Pot, einen Mitgliederladen in Zürich. Wer sich dem Pot anschliesst, bezahlt einen Beitrag, der je nach Einkommen höher oder tiefer ausfallen kann. Ein Teil davon fliesst direkt in die Landwirtschaft. Die Produkte gibt es zum Einkaufspreis; Überschüsse werden in der Pot-Küche weiterverarbeitet und haltbar gemacht. «Es geht darum, Produktion und Konsum neu zu denken, sodass das Geld nicht im Handel stecken bleibt und die Konsument:innen das Risiko der Landwirtschaft mittragen.» Oft erlebe sie Diskussionen darüber, welche Lebensmittelpreise für Konsument:innen mit wenig Geld zumutbar seien. «Aber wer in der Landwirtschaft arbeitet, lebt oft noch viel prekärer. Die sozialen Bedingungen müssen sich verändern, damit eine agrarökologische Landwirtschaft überhaupt möglich ist. Heute kommt man fast nicht darum herum, jemanden auszubeuten – die Leute, den Boden, die Tiere.» Der agrarökologische Zugang gefalle ihr auch deshalb so gut, weil er soziale Fragen stark mitdenke.

Inzwischen ist aus der Pot-Idee ein grösseres Projekt entstanden: die Genossenschaft Koopernikus. Sie verbindet Landwirtschaft, Läden, Foodcoops, Gastronomie und Konsument:innen direkt. «Es geht darum, eine Grösse zu erreichen, die Existenzen sichert», sagt Huber. Sie bleibt dem Pot verbunden, das Gut Rheinau verlässt sie: Sie möchte mehr lernen über den gemischten Anbau von Nutzpflanzen mit Gehölzen und Wildobst, über Interaktionen zwischen Pflanzen, Tieren und Boden. «Agrarökologie bringt verschiedene Dringlichkeiten zusammen. Es ist auch dringlich, sich mit der Natur in Verbindung zu setzen. Eine Landschaft ist produktiv wegen Interaktionen; gleichzeitig machen Interaktionen die Landschaft schön.»


In Morges erklärt Hugo Persillet den grossen Plan des Atelier Paysan. «Auf der Ebene der Betriebe gibt es eigentlich nur eine Strategie, um überleben zu können: Man setzt sich vom Markt ab, holt einen Teil des Mehrwerts von der Industrie zurück, indem man Lebensmittel hoher Qualität selbst anbaut, verarbeitet und verkauft.» Doch das sei eine Nische für privilegierte Kund:innen und darum begrenzt. «Wir sollten aufhören zu glauben, dass eine Alternative sich durchsetzt, nur weil es sie gibt. Die Agroindustrie verschwindet nicht wegen unseres leuchtenden Vorbilds, der Macht unserer Gemeinschaftsgärten.»

Darum setzt das Atelier Paysan auf eine politische Strategie: Der Staat soll für eine gute Nahrungsversorgung zuständig sein, ähnlich wie für die Gesundheitsversorgung. Er soll einen Beitrag an die Essenskosten bezahlen, damit sich auch die Armen Lebensmittel hoher Qualität leisten können und die Produzent:innen gute Preise bekommen. Die agrarökologische Bewegung solle aufhören, eine Alternative für wenige zu sein, und sich mit der Arbeiter:innenklasse verbünden.

Das ist sehr ambitioniert. Und sehr französisch. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken.

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