Millionendebakel: Das Entsorgungsamt hat mal eben 132 Verträge entsorgt

Nr. 23 –

Ein geheimer Bericht der Stadtzürcher Finanzkontrolle zum Beschaffungswesen zeigt: Die Missstände im Tiefbaudepartement von Filippo Leutenegger sind weit gravierender als bisher bekannt.

Stadtrat Filippo Leutenegger versuchte, den Ball flach zu halten, als er am 17. Dezember 2015 vor die Medien trat: Von «Versäumnissen» beim Stadtzürcher Kehrichtheizkraftwerk Hagenholz war die Rede und von drei mittlerweile pensionierten MitarbeiterInnen der Verwaltung, die sich «Hilfsmassnahmen» bedient hätten, um einen gesprochenen Kreditrahmen nicht zu überschreiten. Viele Buchhaltungsunterlagen in der zuständigen Abteilung hätten gefehlt, Richtlinien seien nicht eingehalten worden, das Vertragsmanagement sei mangelhaft gewesen, Aufträge an Externe seien gesplittet und Vergabeentscheide von Unbefugten gefällt worden. «Jetzt werden die Hosen runtergelassen», sagte der freisinnige Vorsteher des Zürcher Tiefbaudepartements zerknirscht in die Kamera. «Jetzt wird alles gezeigt, was wir zeigen können. Denn wir brauchen das Vertrauen der Stimmbürger.»

Fehlende Offerten und Verträge

Die Lokalpresse schrieb daraufhin zurückhaltend und wolkig über «kreative Buchführung», «Wirrwarr» und «Kostenüberschreitung» rund um das Zentrum Hagenholz, das aus einem Logistikzentrum sowie einem Kehrichtheizkraftwerk besteht. Für den Neubau hatte die Stimmbevölkerung 2010 einen Kredit von 72,1 Millionen Franken gesprochen.

Nun zeigt ein geheimer Bericht der Zürcher Finanzkontrolle, der der WOZ anonym zugespielt wurde, dass die Missstände weit gravierender sind als bisher bekannt.

Die Finanzkontrolle prüfte stichprobenweise 140 Rechnungen der Dienstabteilung Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ) in Filippo Leuteneggers Departement, das vor 2014 von der Grünen Ruth Genner geleitet wurde. Obwohl die Bücher laut Gesetz dreissig Jahre und die Belege zehn Jahre lang aufbewahrt werden müssen, wurden, wie es im Bericht heisst, «zu 140 Rechnungen von vier Lieferanten (…) die Geschäftsunterlagen grösstenteils nicht archiviert». Konkret: In 109 Fällen fehlten Offerten, in 132 Fällen Verträge, in allen Fällen Rapporte oder andere Leistungsnachweise. Seit 2008 geht es dabei um fakturierte Beträge in der Höhe von knapp zehn Millionen Franken. Gegenüber der Finanzkontrolle behauptete die sonst in Entsorgungsfragen versierte ERZ, die Unterlagen seien «versehentlich entsorgt» worden.

Ausserdem wurden «mehrheitlich in der Abteilung Bau-/Gebäudemanagement keine schriftlichen Verträge abgeschlossen». Und in fast zwei Dutzend dokumentierten Fällen wurden die Finanzkompetenzen überschritten: Laut dem geheimen Bericht segnete ERZ-Direktor Urs Pauli etwa sechs grosse Aufträge im Wert von rund 300 000 bis 640 000 Franken ab, die eigentlich vom Vorsteher hätten visiert werden müssen, also von Leutenegger beziehungsweise von seiner Vorgängerin Genner.

Ohnehin hat ERZ mit dem Beschaffungswesen einen äusserst lockeren Umgang gepflegt. Bereits 2012 kritisierte die Geschäftsprüfungskommission, es bestehe «wenig Know-how über das Submissionsrecht». Der Stadtrat wies die Kritik zurück, das Know-how sei zwar vorhanden, «aber es wird nicht immer genutzt». Die Finanzkontrolle stellt nun in ihrem Bericht fest, dass «der überwiegende Teil der geprüften Aufträge hätte ausgeschrieben werden müssen». Dabei geht es etwa um Aufträge im Staatsvertragsbereich mit einem Schwellenwert von 350 000 Franken.

ERZ-Direktor nicht entlassen

Die Prüfung des Beschaffungs- und Submissionswesens von ERZ durch die Finanzkontrolle fand bereits im August und September 2015 statt. Filippo Leutenegger und ERZ-Direktor Urs Pauli erfuhren im September und November von Zwischenergebnissen, der definitive Bericht wurde im Dezember verabschiedet.

Leutenegger ergriff die Flucht nach vorne. Er trat vor die Medien und ordnete eine Administrativuntersuchung an: Bis diesen Sommer solle Klarheit über die Probleme herrschen. Die Untersuchung ist laut Tiefbaudepartement schon abgeschlossen, der Bericht sei allerdings noch «in Beratung». Wann die Öffentlichkeit informiert wird, ist noch unklar.

An der Medienkonferenz vom Dezember sprach Filippo Leutenegger von «inakzeptabler Nachlässigkeit», gab sich als grosser Aufräumer, verzichtete jedoch auf personelle Konsequenzen und sprach ERZ-Direktor Urs Pauli das Vertrauen aus.

Heute äussert sich Leuteneggers Tiefbauamt auf Anfrage nicht zu den einzelnen Kritikpunkten der Finanzkontrolle: Revisionsberichte seien nicht öffentlich, deshalb könnten die inhaltlichen Details auch nicht öffentlich ausgeführt werden. Die Art der Mängel sei jedoch an der Medienkonferenz im Dezember «klar benannt» worden. Auch die städtische Finanzkontrolle wollte sich nicht zu ihrem Bericht äussern, «da die stadtinterne Aufarbeitung des erwähnten Falles noch im Gange ist».

Die Unregelmässigkeiten bei ERZ sind auch bei der Rechnungsprüfungskommission des Gemeinderats ein Thema. Sie beantragte vergangene Woche, die ERZ-Rechnung des Jahres 2015 von der Genehmigung auszunehmen – ein höchst aussergewöhnlicher Vorgang. Das Parlament behandelte das Geschäft am Mittwoch nach Redaktionsschluss.

Bewilligter Kredit überschritten

Die Kommission beanstandet die falsche Verbuchung von Ausgaben für den Bau des Logistikzentrums Hagenholz in der Höhe von rund vier Millionen Franken. Ausserdem sei der bewilligte Kredit von 72,1 Millionen Franken gemäss Rechnung per Ende Dezember 2015 bereits überschritten worden.

Mittlerweile hat der Stadtrat zusätzlich per Dringlichkeitsbeschluss einen Zusatzkredit in der Höhe von 1,2 Millionen Franken gesprochen, um fällige Zahlungen zu begleichen. Andernfalls wären laut Stadtrat «unverhältnismässige Nachteile» entstanden, und ERZ hätte einen «massiven Reputationsschaden» erlitten.

Nachtrag vom 5. Oktober 2016 : Wenn ein Stadtrat plötzlich ganz leise wird

Normalerweise lässt der Zürcher Stadtrat Filippo Leutenegger keine Möglichkeit aus, sich medienwirksam zu inszenieren – vorausgesetzt, er wird ins rechte Licht gerückt. Diese Woche jedoch musste Leutenegger über gravierende Missstände in seinem Tiefbaudepartement informieren, eine knappe Medienmitteilung musste reichen.

Konkret geht es um «Verfehlungen» beim Bau des Logistikzentrums Hagenholz von Entsorgung und Recycling Zürich (ERZ). Diese Verfehlungen haben es in sich: «Der bewilligte Kredit von 72,1 Millionen Franken wurde um rund 14,7 Millionen Franken überschritten, zahlreiche Unterlagen sind nicht vorhanden, das Controlling hat ungenügend funktioniert, Aufträge wurden freihändig vergeben, Vergabekompetenzen wurden überschritten, die Projektdokumentation funktionierte ungenügend», heisst es in der Medienmitteilung mit Verweis auf den «geheimen Abschlussbericht». Einzig Hinweise auf strafrechtlich relevante Handlungen seien nicht gefunden worden.

Die Konsequenzen des grob fahrlässigen Umgangs mit Steuergeldern fallen erstaunlich mild aus: Der verantwortliche ERZ-Direktor Urs Pauli erhält eine schriftliche Mahnung, alle weiteren involvierten ERZ-Mitarbeitenden werden überhaupt nicht belangt. Der Abschlussbericht hält übrigens auch fest, dass Ruth Genner, die grüne Vorgängerin von FDP-Stadtrat Leutenegger, ihre Sorgfaltspflichten nicht verletzt habe. Die linken Stadtzürcher Parteien haben den milden Umgang Leuteneggers mit dem ERZ-Direktor umgehend kritisiert. Wirklich stossend ist aber vor allem seine Informationspolitik: Der Abschlussbericht zu den Verfehlungen bleibt geheim. Der Bericht der Zürcher Finanzkontrolle, der das Millionendebakel überhaupt erst zutage gebracht hat, wäre ebenfalls geheim geblieben, wenn ihn die WOZ im Juni nicht öffentlich gemacht hätte.

Die Öffentlichkeit sollte angesichts der Tragweite sowie der Verwendung von Steuergeldern vollumfänglich über die Hintergründe informiert werden – so wie das in Winterthur vor zwei Wochen in einem ähnlich gelagerten Fall passiert ist. Dort gab nach der Publikation der Administrativuntersuchung der zuständige Stadtrat seinen Rücktritt bekannt.

Jan Jirát