Durch den Monat mit Marcel Niggli (Teil 2): Haben Terroristen keine Rechte?

Nr. 32 –

Rechtsphilosoph Marcel Niggli fragt sich, wie sein Computer dem Geheimdienst bei der Terrorbekämpfung helfen soll, und verrät, warum er sich so sehr für Statistiken interessiert.

Marcel Niggli: «Ich zahle gerne für Menschen, für Polizisten, aber nicht für Technik. Ich halte es für idiotisch, Anschläge mit Technologie verhindern zu wollen.»

WOZ: Herr Niggli, letzte Woche ging uns der Platz in der Zeitung aus. Dabei wurde es gerade interessant: Ist es ein Tabu, zu fragen, warum Terroristen fast immer erschossen werden?
Marcel Niggli: Ganz klar. Und was für eins!

Haben Terroristen keine Rechte?
Doch, selbstverständlich. Das ist ja der Witz am Rechtsstaat: Er ist für alle da, ungeachtet des Ansehens der Person. Die Sympathischen brauchen nicht viele Grundrechte, die mögen eh alle. Sehen Sie: Der Terrorismus ist am Gewinnen – nicht wegen der Anschläge, sondern wegen der Reaktionen darauf. Der Rechtsstaat wird eingeschränkt, der Ausnahmezustand verhängt, Menschen kontrollieren und misstrauen einander. Wir verteidigen ein Weltbild, indem wir es aufgeben.

Was ist bei der Bekämpfung des Terrorismus innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen überhaupt möglich?
Alles.

Wozu wird dann der Ausnahmezustand verhängt?
Es ist ärgerlich, wie über den Ausnahmezustand berichtet wird. Dass in der Türkei die Versammlungsfreiheit eingeschränkt ist – geschenkt. Dort, aber auch in Frankreich können Sie ohne richterliche Prüfung verhaftet werden. Darüber spricht niemand. Ausnahmezustand heisst: Die rechtlichen Garantien gelten nicht mehr. Dabei haben wir Gesetze, mit denen man Terrorismus problemlos bekämpfen kann.

Auch in der Schweiz?
In der Schweiz, in Frankreich, überall. Dass ein Richter überprüft, ob Sie zu Recht in Haft sind, hindert doch niemanden an der Bekämpfung von Terrorismus.

Ende September stimmen wir darüber ab, ob wir dem Schweizer Geheimdienst mehr Kompetenzen geben wollen.
Ich hätte gerne jemanden, der mir erklärt, wie auch nur der kleinste terroristische Anschlag oder Gedanke verhindert werden kann, indem auf meinem Computer rumgeschnüffelt wird. Was ist auf meinem Computer, das dem Staat bei dieser Arbeit helfen könnte?

Dem Geheimdienst geht es wohl kaum um Ihren Computer.
Klar, da heisst es: Die Möglichkeit, alle Computer zu durchsuchen, verhindert vielleicht in neun von zehn Fällen einen Anschlag. Aber das interessiert mich nicht.

Auch nicht, wenn diese Wahrscheinlichkeit neunzig Prozent beträgt?
Auch dann nicht. Das heisst ja, dass jedes zehnte Mal ein Anschlag passiert oder jeder Zehnte unschuldig verhaftet wird. Die Frage ist: Was nützt welche Massnahme? Welchen Preis ist man bereit zu zahlen?

Und zu welchem Preis sind Sie bereit?
Grundsätzlich bin ich nicht bereit, für Sicherheit viel zu zahlen. Ich zahle gerne für Menschen, für Polizisten, aber nicht für Technik. Ich halte es für idiotisch, Anschläge mit Technologie verhindern zu wollen.

Warum?
Weil es nicht funktioniert. Da wird Prävention versprochen, die nicht geleistet werden kann. Es ist irrsinnig, was wir heute für Flugzeugkontrollen ausgeben. Und das nur, weil einer von 100 000 vielleicht irgendwann irgendetwas macht. Dabei betritt der nächste Attentäter einfach einen Zug oder ein Kino …

Sie interessieren sich stark für Statistiken. Warum?
Ich finde das spannend, weil die Leute immer so tun, als ob etwas wahr wäre, nur weil es quantifizierbar ist. Aber Mist bleibt Mist, selbst wenn er auf drei Nachkommastellen berechnet wird. Und doch glauben wir, dass es stimmen muss, wenn jemand «drei Komma sieben zwei fünf» sagt.

Wie erklären Sie sich das?
Das hat mit dem Zeitgeist zu tun. Aber auch mit Verantwortung.

Mit Verantwortung? Das müssen Sie erklären.
Die Leute mögen Verantwortung nicht. Deshalb haben sie auch kein Problem damit, Freiheiten abzugeben. Freiheit heisst nichts anders als Verantwortung. Zahlen sind viel bequemer, da kann man sagen: Ich würde ja gern, aber schau, da, drei Komma sieben zwei fünf …

Bemerken Sie diese Sehnsucht nach Messbarkeit auch im Strafrecht?
Ja, im Recht überhaupt. Im Strafrecht macht sich das besonders bemerkbar, weil man von der Repression immer stärker zur Prävention übergeht. Man macht Aussagen über die Zukunft und redet nur noch über Risiken. Aber die Zukunft liegt dort, wo sie hingehört: vor uns. Prävention und Prognosen sagen nur etwas über Wahrscheinlichkeiten. Aber es ist unzulässig, mit Wahrscheinlichkeiten die Gegenwart zu beurteilen. Denn damit geht man von einer kollektiven Ebene auf eine individuelle. Man sagt: In neun von zehn Fällen geschieht etwas. Aber wenn neun von zehn Menschen etwas stehlen, kann das eben auch heissen, dass ausgerechnet Sie nicht stehlen.

Marcel Niggli (56) ist Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph an der Universität Fribourg. Als Kind sagte man ihm, wenn er gross sei, werde er Spinat schon mögen. Schliesslich mögen neun von zehn Kindern im Erwachsenenalter Spinat. Niggli hasst Spinat bis heute.