Auf dem Gefühlsmarkt: Das Leiden unter dem Glückszwang
Der Druck zur ständigen Selbstverbesserung, rigorose Trauerbehandlungen mit Pillen, Konzerne, die einen «Glückschef» beschäftigen: Die herrschende Glücksideologie zementiert trübselige Verhältnisse, statt sie zum Besseren zu verändern.
Glück ist heute ein pharmatechnologisches Produkt, ergo ein bewirtschaftbares Gut. Die Neurochemie rückt dem Unglücklichsein zu Leibe. Damit verwandelt sie vorab die Befindlichkeit einer Person in den Befund eines Organismus. Man sucht nicht primär nach Gründen für das Unglücklichsein, sondern nach Symptomen, die man mit neurochemischen Mitteln bekämpfen kann. Ein solches Verständnis von Depressionen liegt natürlich ganz im Interesse einer mächtigen Pharmaindustrie, für die der mentale Zustand des Menschen primär eine Quelle der Profitmaximierung darstellt.
Wer nicht schluckt, ist gestört
Medikamente üben auch normative Macht aus. Sie definieren den Zustand der Normalität. Wenn also immer wirksamere Antidepressiva zur Verfügung stehen, dann ist es nicht mehr «normal», lange in depressivem Zustand zu bleiben. Man schluckt das Mittel, und wer das nicht tut, riskiert, als mental «gestört» klassifiziert zu werden. Eines der massgebenden medizinischen Klassifikationssysteme – das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM) – listet die Symptome solcher Gestörtheit auf. Der Leitfaden wird von der American Psychiatric Association (APA), dem einflussreichen Fachverband der amerikanischen PsychiaterInnen, herausgegeben, dessen Budget sich zur Hälfte von der Pharmaindustrie speist. Auch im elfköpfigen Beratungskomitee der neusten, der fünften Ausgabe des DSM sitzen acht Experten mit engen Beziehungen zur Big Pharma. Sie haben eine nicht unwesentliche Definitionshoheit über psychische Krankheiten. Angesichts immer potenterer Antidepressiva wie zum Beispiel Wellbutrin hat die APA befunden, mehr als zwei Wochen Unglücklichsein nach dem Tod eines nahestehenden Menschen seien nicht normal, sondern Symptom eines «gestörten» Geisteszustands. Trauern wird zum Gesundheitsrisiko.
Glück gehört zum «Humankapital». Es ist ein Faktor der Selbstoptimierung, wie etwa auch Achtsamkeit («mindfulness»), digitale Entgiftung, kognitive Therapie, Stressreduktionstechniken. Glück kann, wie dies einer der Schöpfer des Begriffs des Humankapitals, der einflussreiche Ökonom Gary Becker, ausdrückte, «augmentiert» werden. Beckers Theorie lässt sich als eine Art von ökonomischem Existenzialismus betrachten: Der Mensch ist das, was er in sich investiert. Erziehung zum Beispiel ist eine strategische Investition in sich selbst. Persönliche Beziehungen sind Wirtschaftsverträge mit Kosten und Nutzen für beide PartnerInnen. Auch Glück ist eine solche Investition: ein Asset, eine innere Kapitalanlage. Glück, so lautet das Mantra, kann man wählen. Coca-Cola verwendet in seiner Werbung den Slogan «Choose Happiness»: Mit der Flasche öffnest du das Glück. Solche Botschaften sind branchenüblich scheinheilig. Sie gaukeln dem Konsumenten ein Happy-go-lucky-Leben und eine Entscheidungsfreiheit vor, die er im Grunde gar nicht hat. Ohnehin klingen solche Sprüche in einer Welt zunehmender ökonomischer Machtballung und Ungleichheit nur noch höhnisch: Du hast die Wahl – zwischen verschiedenen Formen von Abhängigkeit.
Dabei ist das Glück zu wichtig, um dem Zufall überlassen zu werden. Hiess es früher: Geld bedeutet Glück, heisst es jetzt: Glück bedeutet Geld. Ein ganzer Berufsfächer von pfiffigen GlücksvermehrerInnen hat sich geöffnet. In jedem Weiterbildungskurs und Managementseminar wird uns aufgezeigt, welches Glückspotenzial und -kapital in uns läge und zu fördern wäre, koste es, was es wolle. Da ist zum Beispiel der Glückschef oder Chief Happiness Officer, kurz: CHO. Eine wachsende Zahl von Unternehmen beschäftigt solche professionellen «Jolly Good Fellows», die die Bude spirituell auf Vordermann bringen sollen. Bei Google war es bis vor kurzem der Softwaredesigner Chade-Meng Tan. Er bietet den Angestellten ein «mindfulness training» an, das hilft, inneren Frieden und klaren Geist zu finden, um dadurch Stress und Negativität zu entgehen. Herr Tan hat sogar eine Suchmaschine für innere Zustände entwickelt: Search Inside Yourself (SIY). Seine Kurse erfreuten sich unter Google-Leuten einer solchen Beliebtheit, dass er sich nun einem höheren Ziel zuwendet. Für ihn ist SIY nicht weniger als ein Mittel, um den Weltfrieden herbeizuführen. Wer will es ihm verargen, dass er sogar nach dem Nobelpreis schielt.
Obsessive Selbstoptimierung
In den letzten Dekaden lag die menschliche Kognition, also unsere Fähigkeit zur Informationsverarbeitung, im Fokus der Psychologinnen und Hirnforscher. Nun gewinnt die Emotionalität zunehmend an Bedeutung. Es ist die Rede von Bruttonationalglück oder vom World-Happiness-Index (auf dem die Schweiz den zweiten Platz hinter Dänemark einnimmt). In dieser Bedeutungsverschiebung spiegelt sich durchaus auch ein Interesse am Wissen über die Manipulierbarkeit der Kundinnen, Patienten, Wählerinnen, Sportler, Arbeiterinnen. Wie es scheint, lässt sich der Mensch über das Gefühl besser «anschubsen» als über den Verstand. Wie also ihn beeinflussen, damit er oder sie das Gewünschte tut, ohne es zu merken? Das ist die Zentralfrage der «Schubser»: der Marktforscher, Politstrateginnen, Betriebspsychologen, ökonomischen Verhaltensforscherinnen. Hier ist vor allem auch der Einfluss von Big Data zu beobachten. Das ständig wachsende Arsenal an Apps zum Selftracking macht viele Menschen zu neurotischen Selbstbesorgten: Sie lassen sich von der tragbaren Technologie sagen, wie es ihnen geht. Und nicht nur das: Die obsessive Massenbeschäftigung mit dem eigenen Ego liefert der einschlägigen Branche natürlich das nötige Datenmaterial über das Glücksbefinden der UserInnen, womit sich ein riesiger Markt der Gängelung eröffnet. Die Allianz von Hirnforschung und Verhaltenswissenschaft tendiert ohnehin dazu, traditionelle Psychologie und Soziologie auf längere Sicht durch eine einzige allgemeine Wissenschaft der menschlichen Entscheidungsfindung, basierend auf Big-Data-Analyse, zu ersetzen.
Spätestens hier bricht der Widerspruch auf. Es ist kaum wegzudiskutieren, dass die globale ökonomische Dynamik auch weltweit zu einer psychischen Malaise führt. Millionen von Arbeitenden unter prekären Verhältnissen in den sogenannt entwickelten Gesellschaften fühlen sich unwohl. Und sie möchten sich von «gut meinenden» Beratern und Glückstechnologinnen auch nicht zum Wohlfühlen überreden lassen. Wenn Frauen und Männer unter bestimmten Arbeits- und Lebensbedingungen nicht aufblühen, dann tun sie dies wahrscheinlich auch nicht, wenn man sie mit den wirksamsten Therapien und Pharmaka traktiert und vollpumpt.
Anders gesagt: Mit dem psychiatrischen und psychotherapeutischen Blick auf das Glück riskiert man eine Aufmerksamkeitsverschiebung weg vom Sozialen und Politischen und damit weg von wichtigen äusseren Mitursachen einer inneren Krise. Immerhin kennt man ja durchaus Arbeitsbedingungen, die das Glück nicht notwendigerweise fördern. So weiss man, dass Arbeit, über die man keine Kontrolle hat, ziemlich unwohl macht und auch das Risiko von Herzattacken erhöht. Unter solchen Bedingungen nimmt nicht nur die Arbeitsmotivation Schaden, sondern auch die Wirtschaft. In den USA verursachen Krankheiten, häufiges Fernbleiben vom Arbeitsplatz oder auch unnötig langes Verharren am Arbeitsplatz Gesundheitskosten in der Höhe von 550 Milliarden Dollar jährlich.
Nur ja keine Kapitalismuskritik
Vielleicht sollte man vor dem Hintergrund der Weltbeglückung durch Forschung, Selbstoptimierungskurse und Medikamente einen zweiten Blick auf die Pathologisierung des Unglücklichseins werfen. Im Unglücklichsein steckt ja auch der Keim der Kritik, also eines Denkanlasses. Statt dass es als Symptom wegbehandelt wird, wäre das Unglücklichsein Anlass, nach Ursachen, Gründen, nach Verantwortlichen, ja MissetäterInnen zu fragen. Kritik findet nicht im Gehirn statt. Sie braucht eine Kultur, eine Politik, eine Sprache, die den «Diskurs des Unglücklichseins» artikuliert: Analyse durch Denken, nicht Paralyse durch Wohlfühlen und Liken. Es gibt eine Menge von Autorinnen und Autoren, die an einer solchen Sprache arbeiten. Um hier nur ein paar zu nennen: Joseph Stiglitz mit «Der Preis der Ungleichheit», Richard Wilkinson und Kate Pickett mit «Gleichheit ist Glück», Tim Kasser mit «The High Price of Materialism» und neuerdings William Davies mit seinem grandiosen «The Happiness Industry».
Das herrschende Wirtschaftssystem kann Unglücklichsein nicht dulden. Die Ausmerzung dieses Zustands wird deshalb zur systemerhaltenden Aufgabe. Mit der Bewirtschaftung des Glücks absorbiert der Kapitalismus gleich auch die Kritik an sich selbst. Im Kern haben wir es also mit einem fundamentalen Problem zu tun. Für nicht wenige VerfechterInnen des politökonomischen Status quo sind alle entscheidenden Fragen bereits beantwortet. Ihre Logik: Wenn die herrschende Form des Kapitalismus den Bedürfnissen vieler Menschen nicht entspricht, dann muss man diese Menschen halt ändern, damit sie den Bedürfnissen dieses Kapitalismus entsprechen.
Man fühlt sich an Herbert Marcuses «eindimensionalen Menschen» erinnert. Diese Eindimensionalität hat sich nunmehr verfestigt zum Axiom: Es gibt kein anderes System, keinen Ausweg – «there is no alternative». Unablässig beten Wirtschaftsleute und PolitikerInnen dieses alte Axiom wie einen Gegenzauber herunter, der sie vor dem schützt, was sie am meisten fürchten: dass nämlich die Menschen ihr Unglücklichsein nicht als Geistesstörung begreifen, sondern als Gestörtheit des ökonomischen und politischen Systems. Unter dem Glücksimperativ – sei er kapitalistisch oder wie auch immer geartet – missglückt uns jedenfalls das Leben.