Schengen: die Abkommen: Am Anfang war die Freiheit
Worum es bei Schengen und Dublin geht, wie die Verträge entstanden – und weshalb die Schweiz auch ohne Beitritt sicher bleibt.
Am 5. Juni 2005 stimmen wir über Schengen und Dublin ab. Aber was zum Teufel bedeutet das? Wer es wissen will, kann den erläuternden Bericht zur Botschaft durchackern (sechzig Seiten, plus dreissig Seiten Gesetzesartikel). Tapfere beissen sich durch die Botschaft: zweihundert Seiten, mit winzigen Lettern eng bedruckt. Man scheint an alles gedacht zu haben – nur nicht daran, dass gewöhnliche Menschen es verstehen sollten.
Beginnen wir von vorn, bei der schönen Idee: Vor ziemlich genau zwanzig Jahren, am 14. Juni 1985, trafen sich Gesandte von Frankreich, Deutschland, Belgien, Holland und Luxemburg im Grenzdorf Schengen und versprachen, die Schlagbäume abzuschaffen. Die Grenzen sollen weg. Ein tolles Versprechen.
Das Versprechen ist jedoch mit einer zweiten Botschaft verknüpft: Wenn die innereuropäischen Grenzen nicht mehr kontrolliert werden, steigt die Kriminalität. Weil es keine Grenzwächter mehr gibt, die bislang die Delinquenten an den Grenzübergängen rausfischten, muss man andere Methoden einsetzen, um an die Gesetzesbrecher heranzukommen. Klingt logisch.
Damit die Menschen dieser Logik auch folgen konnten, begannen PolitikerInnen und Polizeikader Mitte der achtziger Jahre davon zu reden, das grenzenlose Europa würde zum «Mekka der Kriminalität». Mafiosi, Dealer oder Menschenhändler – die man früher an den Grenzen abfangen konnte – würden sich künftig in Massen frei rumtreiben. Dabei war diesen PolitikerInnen klar, dass das so nicht stimmt. Der damalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble sagte es deutlich: «Der Schlagbaum ist kein intelligentes Fahndungsinstrument.» Und auch die bundesrätliche Botschaft bekennt heute: «Eine hermetische Abriegelung der Grenzen ist – mit oder ohne Schengen – ein Ding der Unmöglichkeit.» Die Mobilität macht es unmöglich: Täglich überqueren 700 000 Menschen und 320 000 Fahrzeuge die Schweizer Grenze. Die Zöllner können deshalb an den Schlagbäumen nur Stichproben machen und kontrollieren nur etwa drei Prozent aller Personen, die ein- oder ausreisen.
Zwar greifen die Grenzwächter jährlich etwa 30 000 Personen an den Schweizer Grenzen heraus. Im letzten Jahr erwischten sie zum Beispiel 7000 Menschen bei dem Versuch, illegal einzureisen; 30 000 Personen pflückten sie raus, weil sie das Strassenverkehrsgesetz verletzt hatten; 16 000 wollten sich um Zollgebühren oder Mehrwertsteuer drücken; 2600 hatten Betäubungsmittel dabei. Das hört sich dramatisch an, ist es aber nicht. Denn gerade bei den Betäubungsmitteln erwischen die Grenzwächter meist nur Kleindealer. Grössere Drogenmengen stellt die Polizei erfahrungsgemäss nur an den Flughäfen fest.
Hier lässt sich also wenig kompensieren, wenn die Grenzkontrollen wegfallen würden. Das tun sie aber gar nicht: Die Schweiz will Schengen beitreten – aber sie schafft die Grenzkontrollen nicht ab. An den Grenzen wird sich auf Schweizer Seite nichts ändern. Weiterhin werden die Zöllner Papiere kontrollieren, Stichproben machen und im grenznahen Raum mobile Kontrollen durchführen. So wie sie es in den letzten Jahren getan haben. Das sagt das Zentrale Kommando der Grenzwachtkorps, das sagen die Polizeiverbände und das sagt die bundesrätliche Botschaft: Die Grenzen bleiben gleich bewacht und kontrolliert – weil man keine Zollunion mit der EU eingeht und weiterhin Zölle eintreiben muss.
Die Schweiz wird sich also an den Abkommen von Schengen und Dublin beteiligen, um an den «Kompensationsmassnahmen» teilhaben zu können. Nur dass sie nichts zu kompensieren hat. Man will lediglich die neuen ausgedehnten Fahndungs- und Überwachungsinstrumente nutzen, die die EU in den letzten Jahren aufgebaut hat. Wie zum Beispiel:
1. Informationssystem
Das Schengen-Informationssystem (SIS) ist ein riesiger Computer, in den die beteiligten Staaten Fahndungen eingeben können – oder auch Daten über abgewiesene Asylsuchende. Die nationalen Fahndungsdateien (in der Schweiz Ripol) werden automatisch mit diesem Computer vernetzt. Kontrolliert zum Beispiel ein Polizist die Personalien einer Person, sieht er sofort, ob irgendein anderer Staat diese Person sucht oder ausgewiesen hat.
Das SIS hat allerdings ein Problem: Die Schweiz kann im Moment gar nicht mitmachen. Das aktuelle System hat noch einen freien Anschluss – und der ist für Britannien und nicht für die Schweiz reserviert. Die Schweiz muss also – wie alle neuen EU-Staaten im Osten – bis mindestens 2007 warten. Dann sollte SIS II in Betrieb gehen. Ein noch leistungsfähigeres Computersystem, das noch mehr Daten speichern kann. Welche Daten im SIS II genau gesammelt werden, weiss man allerdings noch nicht.
2. Schleierfahndung
Die bayrische Polizei hat den hübschen Begriff Schleierfahndung erfunden. Damit sollen die Kontrollen an den Grenzen ersetzt werden: Man legt sozusagen einen Fahndungsschleier über das Hinterland und führt auf wichtigen Strassenabschnitten oder Zügen mobile Polizeikontrollen durch. Der Bund will diese neue Art Fahndung auch einführen und rechtfertigt sie als probates Mittel «im Kampf gegen das Schlepperwesen, welches immer besser organisiert ist».
In Deutschland war die Schleierfahndung von Anfang an umstritten, da es rechtsstaatlich bedenklich ist, Personen, gegen die nichts vorliegt, polizeilich zu kontrollieren. Gegen das «illegale Schleusertum» hilft sie ebenfalls wenig, wie Auswertungen in deutschen Bundesländern gezeigt haben. 2002 wurden beispielsweise in Sachsen 9533 Personen erwischt, die illegal eingereist waren – aber nur 2,5 Prozent davon griff man mittels Schleierfahndung auf. Dafür stiegen die Anzeigen wegen irgendwelcher Verstösse, die mit dem «Ersatz von Grenzkontrollen» überhaupt nichts zu tun hatten.
Die Schweizer Grenzwachtkorps betreiben schon seit einiger Zeit im grenznahen Raum mobile Kontrollen. Sie hätten diesen Raum gerne auf dreissig Kilometern entlang der Grenze ausgedehnt. Da muckten aber die Kantone auf, weil sie fürchteten, die Grenzwächter würden ihre Polizeihoheit unterminieren. Heute hat die Grenzwacht mit allen Grenzkantonen einzeln bilaterale Verträge abgeschlossen, die genau regeln, wie weit die Grenzwächter ins Landesinnere vorstossen dürfen. Am Lötschberg beginnt übrigens die südliche Grenze schon in Thun: Die Grenzwächter besteigen dort die internationalen Züge, um die Reisenden zu kontrollieren.
3. Dublin und Eurodac
Mit dem Dubliner Abkommen macht die EU der Schweiz ein Geschenk: Sie nimmt der Schweiz alle Flüchtlinge ab. Denn laut dem Abkommen ist das Schengen-Land für ein Asylgesuch zuständig, das ein Flüchtling als erstes betreten hat (Begründung: wegen der «mangelhaften Kontrolle der Aussengrenze»). Die Schweiz hat keine EU-Aussengrenze zu verteidigen – ausser die internationalen Flughäfen. Und da sind die Fluggesellschaften und der Flughafen verantwortlich, dass niemand reinkommt, der nicht rein darf.
Transportieren die Fluggesellschaften trotzdem jemanden, den man hier nicht haben will, müssen sie für seine Unterkunft, die Ausschaffungshaft und die Rückschaffung selbst aufkommen – so wird es künftig neu im Ausländergesetz Artikel 22a/ter stehen. Ausserdem haben die Fluggesellschaften noch eine Busse zu gewärtigen. Ansonsten heisst es: Die Schweiz wird für keine Flüchtlinge mehr zuständig sein – es sei denn, sie springen mit dem Fallschirm über der Schweiz ab.
Alle anderen müssen über ein Schengen-Land einreisen. Und wenn sie nicht bekannt geben, über welches Land sie kamen, wird man ihnen das als «Verweigerung der Mitwirkungspflicht» auslegen. Wer nicht mitwirkt, wird nicht ins Asylverfahren aufgenommen. Da nützt es wenig, wenn man hofft, die Schweiz werde sich – wenn sie mal zu Schengen gehört – an die «Richtlinien über Mindestnormen» im EU-Asylrecht halten. In der Botschaft des Bundesrats heisst es dazu kurz und bündig: «Die Schweiz wird diese Rechtsinstrumente auf der Basis von Dublin nicht übernehmen.»
Eurodac ist dann noch das technische Hilfsmittel, um Dublin umzusetzen: Es ist ebenfalls ein Grosscomputer, in dem alle Schengen-Staaten die Fingerabdrücke eingeben. So kann mit Hilfe von SIS und Eurodac festgestellt werden, ob ein Flüchtling bereits irgendwo registriert wurde. Ist er registriert, wird er abgeschoben (vgl. Artikel auf Seite 7).
4. Visumscomputer
Ist die Schweiz bei Schengen dabei, darf sie auch Schengen-Visa ausstellen. Das hat Vorteile für die Tourismusindustrie, die vor allem auf die Neureichen aus Russland und China setzt und hofft, ihre Übernachtungszahlen verdoppeln zu können. Die Schweiz wird aber auch ihre Visa-Politik der EU anpassen müssen. Konkret werden SüdafrikanerInnen künftig ein Visum brauchen, wenn sie in die Schweiz reisen wollen. BolivianerInnen dagegen nicht mehr. Zudem werden alle Konsulate ans Schengener Informationssystem und ans Informationsystem «Vision» angeschlossen werden, in dem die Daten über Visumanträge gespeichert werden. Erteilt die Schweiz zum Beispiel einer Ukrainerin kein Visum, wird sie auch in keinem anderen Schengen-Land eines erhalten – und umgekehrt. Begründen muss es die Schweiz nicht.
Fazit
Schengen und Dublin bringen grosse neue Computersysteme mit schmucken Namen. Die Schweiz wird sich daran andocken dürfen.
Die beiden Abkommen stehen für ein gigantisches Polizeilabor. Die Polizeien arbeiten nicht nur enger zusammen, sie entwickeln immer neue Datenbanken, sammeln immer mehr Informationen, denken sich neue Fahndungsmethoden aus – und entziehen sich jeglicher demokratischen Kontrolle. Kein Parlament hat die Strategien der Schengen-Polizeien je diskutiert oder abgesegnet. Diese bauen ohne jegliche öffentliche Kontrolle einen neuen, elektronischen Vorhang – der vor allem für «unerwünschte AusländerInnen» undurchdringbar sein soll. Und niemand weiss genau, wie sich dieser riesige Organismus weiterentwickeln wird.