Nach der Lohnarbeit: Und plötzlich klingelt die AHV

Nr. 34 –

Die Künstlerin Stella Glitter, der Bauarbeiter Fortunato Piraino, die Bibliotheksmitarbeiterin Ninfa Schlegel: Drei Menschen erzählen aus ihrem bewegten Leben – kurz vor oder nach der Pensionierung. Einblicke in drei unterschiedliche und doch verwandte Biografien einer Generation.

  • «Mit der AHV habe ich endlich mein Künstlerinnenleben»: Stella Glitter (67), Künstlerin und Kino-­Operatrice, früher unter anderem Taxifahrerin, Dachdeckerin, Fabrikarbeiterin und Pferdepflegerin.
  • «Bis 65 jeden Tag bei jedem Wind und Wetter auf den Bau gehen? Nichts für mich»: Fortunato Piraino (63), frühpensionierter Polier.
  • «Zwei Jahre noch. Höchstens»: Ninfa Schlegel (62), heute Angestellte in der ETH-Bibliothek, will danach nur noch die Sommer in Zürich verbringen.

Es war das Jahr, als Jimi Hendrix starb. Im Herbst 1970 zog Stella Brunner, eines von sieben Kindern aus einem Pfarrhaushalt im Thurgau, nach Zürich und schrieb sich an der Universität als Studentin der Veterinärmedizin ein.

Stella Glitter (so nennt sie sich inzwischen) ist nie Tierärztin geworden. «Schon nach wenigen Monaten», erzählt sie 46 Jahre später im Garten einer Freundin in Zürich Wipkingen, «begannen mich ganz andere Themen zu interessieren.» So war sie in jener «revolutionären Phase», wie Glitter sagt, auch in der «Heimkampagne» engagiert. Unter diesem Titel solidarisierte sie sich im September 1971 mit den jugendlichen Zöglingen der Arbeitserziehungsanstalt in Uitikon, um deren Protest gegen die schikanösen Bedingungen in der Anstalt zu unterstützen. Glitter war eine der AktivistInnen, die ins Anstaltsgelände eindrangen, um mit den Insassen zu diskutieren – worauf siebzehn von ihnen spontan entschieden, die Anstalt zu verlassen. Tage später, als sie mit den AktivistInnen zu einer Pressekonferenz einluden, um ihre Bedingungen für eine freiwillige Rückkehr zu kommunizieren, wurden sie von Polizeibeamten in einer Kiesgrube bei Birmensdorf verhaftet und – wie auch Glitter und GenossInnen – auf verschiedene Untersuchungsgefängnisse verteilt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Glitter bereits aus dem bürgerlichen Leben verabschiedet. Geistige und materielle Unabhängigkeit – so lautete die Devise. In den Jahren der Hochkonjunktur vor der Ölkrise (1975) waren die Voraussetzungen dazu für viele junge Menschen so gut wie noch nie: «Es war eine Zeit, in der es, auch mit dem Aufkommen von WGs, genügend bezahlbaren Wohnraum und ausreichend Jobs auf dem Bau, in Fabriken oder auf der Post gab – sodass man sich immer wieder für längere Zeit ganz auf das konzentrieren konnte, was einem am Herzen lag», erinnert sich Glitter.

1971 machte sie die Taxiprüfung – seit 45 Jahren ist sie in Zürich immer wieder als Fahrerin unterwegs. Im Lauf der Jahre arbeitete sie aber auch als Dachdeckerin, Fabrikarbeiterin in der Maschinenindustrie, Autokurierin, Pferdepflegerin und -trainerin in einem Trabrennstall, als selbstständige Lederschneiderin – und bis heute als ausgebildete Operatrice im Zürcher Kino Uto.


Zu der Zeit, als Stella Glitter politisch erwachte, war Fortunato Piraino siebzehn Jahre alt. 1970 nahm er von seiner Familie im sizilianischen Barcellona bei Messina Abschied und fuhr mit Sack und Pack in den Norden, um in Fabriken und auf Baustellen im Grossraum Mailand Arbeit zu finden.

46 Jahre später wartet Piraino vor einem Gewerbehaus in Lenzburg, wo der 63-jährige Frühpensionär seine Büroarbeiten erledigt. «Da, schauen Sie», sagt er, nimmt seine Brille hervor und breitet gleich zu Beginn unseres Treffens einen alten Zeitungsartikel aus: «Im März 2002, da haben wir im ganzen Land zu streiken begonnen und später auch die Autobahn am Baregg blockiert. Und dann, acht Monate später, sehen Sie», fährt er fort und faltet eine weitere Zeitung aus: «Am 14. November hatten wir unser Ziel erreicht: Frühpensionierung für alle Bauarbeiter ab sechzig Jahren!»

Pirainos Stolz kommt nicht von ungefähr: Er selbst spielte schon bei den ersten Vorgesprächen in Aarau eine prägende Rolle in diesem Arbeitskampf. Vier Tage nach der denkwürdigen Vereinbarung zwischen dem Baumeisterverband und den Gewerkschaften Unia und Syna erhielt er von seinem Chef die Kündigung – «nach über zwanzig Jahren Firmentreue!». Angesichts der vierköpfigen Familie habe er zunächst noch kurz gezögert, als ihn seine Frau fragte, ob er sich nicht entschuldigen gehen wolle, um vielleicht doch weiterhin in der Firma arbeiten zu können. Dann aber habe er sich gesagt: «Morgen finde ich eine neue Stelle.» Was auch der Fall war.

Am 1. Juli 2003 trat der neue Gesamtarbeitsvertrag für den flexiblen Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe in Kraft. Seither können ArbeiterInnen ab sechzig, die mindestens fünfzehn Jahre auf dem Bau tätig waren, bis zum AHV-Alter eine Überbrückungsrente beziehen: 65 Prozent des Jahreslohns plus 6000 Franken. Heute zahlen die Angestellten dafür 1,5 Prozent ihres Lohns in eine Stiftung ein, die Unternehmen steuern 5,5 Prozent bei.

Erstmals in die Schweiz gekommen ist Piraino 1973. Sein älterer Bruder war zu dieser Zeit schon eine Weile im Land und sagte ihm am Telefon: «Komm in die Schweiz – hier gibt es Arbeit, da können sie jemanden wie dich gebrauchen!» So landete Piraino als Maurer auf einer Baustelle der Max Fischer AG in Lenzburg. «Drei Monate später aber packte ich schon wieder den Koffer. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis», erinnert er sich. «Die Kultur, die Sprache, der Umgang – das alles machte mich krank.» Bis 1977 lebte er wieder in Mailand, arbeitete in Fabriken und auf dem Bau, wurde Mitglied einer marxistisch-leninistischen Organisation. Eine aufregende Zeit. Piraino genoss das Grossstadtleben.

Bis er dann 1977 bei einem Familienbesuch in Sizilien seine Frau kennenlernte – und just in den Tagen der Hochzeit einen Brief aus Lenzburg erhielt: Die Max Fischer AG liess ausrichten, dass sie Bedarf an guten Maurern hätte …


Als Jimi Hendrix starb, war Ninfa Agatha Schlegel sechzehn Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter, ihrer jüngeren Schwester und ihrem Stiefvater in Gela, einer Industriestadt an der sizilianischen Südküste. 1954 war sie als Tochter einer Italienerin und eines Schweizers in Zürich geboren worden. Bald darauf war die Familie nach Muralto ins Tessin gezogen – hier hatten sich der Vater, Stoffhändler aus Grabs SG, und die Mutter, Schneiderin aus Sizilien, auf einem Markt in Locarno kennengelernt.

«Die Kindheit in Muralto war die schönste Zeit meines Lebens. 1966 aber, nachdem meine Mutter mit mir nach Sizilien gezogen war, begann eine schlimme Zeit», sagt Schlegel 46 Jahre später in einem Strassencafé im Zürcher Univiertel. Ein «Inferno» nennt sie diese Jahre: Als Mädchen und Jugendliche sah sie sich in einer extrem patriarchalen Gesellschaft gefangen, die in der Person ihres Stiefvaters eine ausgeprägte Verkörperung fand: «Bis heute kann ich nicht verstehen, wie meine Mutter so einen Mann heiraten konnte.»

Ninfa rebellierte gegen den frauenverachtenden Umgang der Männer, speziell gegenüber jungen unverheirateten Frauen. Sehr früh schon kam sie in Kontakt mit dem italienischen Feminismus, der zu dieser Zeit überaus lebendig war. Viele linke NorditalienerInnen kamen Anfang der siebziger Jahre nach Gela, um zu agitieren. So lernte Ninfa schon als Vierzehnjährige die Feministin Maria Rosa Cutrufelli kennen und machte in feministischen Selbsterfahrungsgruppen mit. «Auf politischer Ebene setzten wir uns für einen Hausfrauenlohn ein. Wir gingen von Haus zu Haus und machten Interviews mit den Hausfrauen. Die Ehemänner machte das rasend.»

1972, mit achtzehn, zog Schlegel nach Catania, um an der Universität Sprachen zu studieren – und heiratete einen neun Jahre älteren Mathematikdozenten. «Eine rein politische Heirat, um mich der Kontrolle des Stiefvaters zu entziehen», erklärt sie. Es folgten anstrengende Jahre: Studium, unglückliche Ehe, die Arbeit im Schulsekretariat und als Magazinerin, der politische Kampf – und die erste Schwangerschaft: 1976 gebar sie Flavia. Kurz nach der Geburt trennte sie sich von ihrem Mann. Ninfa Schlegel war fortan alleinerziehend.


«Mit der AHV», sagt Stella Glitter und zündet sich eine Zigarette an, «begann für mich ein neuer Lebensmodus.»

Glitter ist ein Beispiel unter vielen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, letztlich aber nur den Minimalbetrag der AHV erhalten – und von der zweiten Säule wenig bis gar nichts. Als AHV-Bezügerin ist sie auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Damit gehört Glitter zu einer grossen Gruppe von Menschen hierzulande, die auch im Pensionsalter am Existenzminimum leben. Viele auch, weil sie in sozialen, politischen oder kulturellen Projekten Pionierarbeit geleistet, Kinder aufgezogen oder Angehörige betreut haben – und über Jahre höchstens in Teilzeitpensen einer Erwerbsarbeit nachgehen konnten.

Bei Glitter war es die künstlerische Tätigkeit, die ab den späteren siebziger Jahren immer wichtiger wurde – zunächst ab 1978 als Gitarristin bei Ratz und Absturtz, zwei Zürcher Punkbands der ersten Stunde. Später war sie mit der Rockband Complete Enchanter in der Schweiz und in Italien unterwegs sowie in Tanztheaterproduktionen engagiert; in den neunziger Jahren – nachdem ihre Identität als Frau nach einer geschlechtsanpassenden Operation offiziell anerkannt worden war und noch während sie die Kunstschule F + F besuchte – trat sie als Performerin und ab 2000 immer mehr auch als bildende Künstlerin in Erscheinung.

2011, mit 62 Jahren, hat sich Glitter, zwei Jahre vor dem offiziellen Pensionsalter, frühpensionieren lassen. «Das hat mich wahnsinnig erlöst. Mit der AHV und den Ergänzungsleistungen lebe ich ohne den Zwang, ständig Tieflohnjobs machen zu müssen. So habe ich endlich mein Künstlerinnenleben.»

Der «kreative Energieschub», den die neue Freiheit ausgelöst hat, lässt sich sehen: In den letzten vier Jahren hat die Künstlerin so viele Projekte angerissen und umgesetzt wie noch nie: Legendär sind zum Beispiel ihre Tributes an Lou Reed oder die «Uto-Kult»-Abende zu Ehren von Patti Smith oder Andy Warhol.


Lenzburg im August. Fortunato Piraino sitzt vor einem türkischen Imbiss und kommt kaum dazu, einen Schluck vom Kaffee zu nehmen. «Also», setzt er seine Erzählung fort, wobei er schon wieder auf die Uhr schaut: «1977, nach unserer Heirat, folgten wir dem Ruf der Max Fischer AG und zogen nach Lenzburg.»

Bald vierzig Jahre lebt Piraino inzwischen hier. Sieben Jahre, bis 1984, im Saisonnierstatus. Jahr für Jahr musste er mit Frau und Kindern für drei Monate das Land verlassen – obwohl nach vier Jahren Arbeit in der Schweiz die Aufenthaltsbewilligung hätte erteilt werden müssen. Durch ungenaue Arbeitsverträge jedoch fehlten in diesen Jahren jeweils ein paar wenige Tage, um auf die dafür erforderliche Totalarbeitszeit von neun Monaten zu kommen. Eine bürokratische Unsorgfalt mit fatalen Folgen – aufgrund dieser Ausfälle erhalten ehemalige Saisonniers bis heute weniger Geld aus der AHV und den Pensionskassen.

Als Saisonnier erhielt Fortunato Piraino in den siebziger Jahren 3800 Franken brutto im Monat. Genug, damit nicht auch seine Frau Tindara einer Erwerbsarbeit nachgehen musste, als die Kinder noch klein waren. Um weiterhin gemeinsam über die Runden zu kommen, wurde es ab 1984 aber nötig, dass sie in einem Teilzeitpensum als Schneiderin arbeitete. Nachdem die Firma, in der Tindara Piraino nähte, 1997 Konkurs gegangen war, betrieb sie ein eigenes Nähatelier, das sie 2006 arthrosebedingt aufgeben musste. Obwohl sie seit zehn Jahren nicht mehr arbeitsfähig ist, bekommt sie nichts von der IV – trotz mehrerer Anträge. In drei Jahren, wenn sie pensioniert wird, wird sie als ehemalige Teilzeiterwerbstätige auch von den Pensionskassen kaum einen Rappen sehen.

Fortunato Piraino arbeitet derweil in einem Dreissigprozentpensum noch immer als Polier; zudem macht er Ferienvertretungen bei der Firma, bei der er bis zur Frühpensionierung gearbeitet hatte. Auch gewerkschaftlich ist er immer noch engagiert, als ehrenamtlicher Präsident des Baukomitees in der Unia Region Aargau, das er selbst gründete und viele Jahre präsidierte. Noch heute vertritt er die Region in den nationalen Verhandlungen zum Landesmantelvertrag und ist Vorstandsmitglied in der Unia Region Aargau.


1980 begann Ninfa Schlegel, nach einem «annus terribilis» in Florenz, wo sie wieder in einem Schulsekretariat arbeitete, ein neues Leben in Zürich – just als in der Zwingli-Stadt die Achtziger-Unruhen ausbrachen. «Ich wollte weg aus Sizilien – und auch aus Italien», sagt sie. Ihre Tochter blieb derweil bei ihrem Vater in Sizilien.

In Zürich angekommen, «mit nichts als einer Reisetasche und meinem Schweizer Pass», hoffte Schlegel auf bessere Zeiten. Stattdessen aber: ein «böses Erwachen». In der Annahme, dass in der Schweiz die Stellung der Frau weit besser sei als in Sizilien, musste sie – neun Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts – auch hier arge Benachteiligungen konstatieren. Unter anderem ist ihr das nahezu inexistente Angebot an Kinderhorten aufgefallen.

Geld hatte sie fast keines. So zog die 27-Jährige in die Jugendherberge in Wollishofen, wo sie dank ihres Schweizer Passes auch einen ersten Job fand: Zuerst machte sie die Zimmer, später arbeitete sie an der Réception. Zwei Jahre lang, hundert Prozent.

Ninfa Schlegel profitierte zwar sprachlich davon, dass sie als Kind regelmässig bei Verwandten in Zürich in den Ferien gewesen und im Tessin mit DeutschschweizerInnen in Kontakt gekommen war. Wirklich in Zürich zu Hause gefühlt habe sie sich aber erst nach etwa zehn Jahren.

Ab 1982 arbeitete Schlegel für einige Jahre als Kioskverkäuferin im Zürcher Hauptbahnhof, wo sie auch ihren zweiten Mann kennenlernte. «Ein strenger und schlecht bezahlter Job», erinnert sie sich. Noch während dieser Phase wurde sie schwanger. 1986 kam David, ihr zweites Kind, zur Welt – worauf sie den Job aufgrund des fehlenden Angebots an zahlbaren Tageshorten aufgeben musste.

Es folgte ein längerer Verdienstausfall: Nachdem ihre jüngere Schwester Sonia schwer erkrankt war, pflegte sie sie in Bologna zusammen mit ihrer Mutter. Zugleich kümmerte sie sich um ihren kleinen Sohn. Ein Jahr lang blieb Schlegel in Bologna – bis ihre Schwester starb. «In diesen Jahren erlebte ich alles – von der Geburt bis zum Tod», sagt sie. 1989 trennte sie sich auch von ihrem zweiten Mann. Erneut alleinerziehend, arbeitete sie als Teilzeitsekretärin für einige Monate im Zürcher Zollfreilager.


«Aber nein», gesteht Stella Glitter: In der «revolutionären Phase», als sie ihr Leben mit Taxifahren und anderen Teilzeitjobs finanzierte und auch die Auseinandersetzung mit ihrer Geschlechtsidentität immer drängender wurde, da habe sie «keine Sekunde an die AHV gedacht. In meiner ganzen Nichtkarriere haben mich die AHV und die Pensionskasse nie interessiert. Erst mit 62, als ich in die Wege leitete, dass ich in Rente gehen kann.»

Sie habe «auf Biegen und Brechen» ein künstlerisches Leben geführt. Und dafür immer wieder grosse Belastungen in Kauf genommen: «Mit meinem Curriculum habe ich im offiziellen Kunstbetrieb keine Chance gehabt, für ein Werkstipendium hat es nie gereicht. Ich kam also nie in die Kränze. Dafür hatte ich umso mehr Freiheiten, auch transgendermässig.» Einmal immerhin, erinnert sich Glitter, die seit 1970 fast ohne Unterbrüche in Zürich lebt, habe ihr die Stadt Zürich ein Werk für die städtische Kunstsammlung abgekauft: «Das hat mich damals gerettet.»

«Die Revolution hat nicht stattgefunden», sagt Glitter. «Und nun bin ich plötzlich im AHV-Alter.» Und doch sei sie noch immer in der Stimmung wie damals. Immer noch geht es ihr darum, «mit wenig Geld gut durchs Leben gehen zu können und meine Leidenschaften in Kunst und Leben zu pflegen, ohne mir dabei auf die Kappe scheissen zu lassen».


«Attenzione!», sagt Fortunato Piraino. Bei allem Stolz über gewonnene Arbeitskämpfe dürfe man eines nie vergessen: «Sobald du dich zurücklehnst, wird das bestraft – sofort wollen sie dir wieder wegnehmen, was du erkämpft hast.»

Selbst der historische Durchbruch von 2003 wurde plötzlich wieder infrage gestellt: 2015 verlangten die Bauunternehmer eine Erhöhung des flexiblen Altersrücktritts auf 62 Jahre – oder eine Kürzung der Jahresrente um bis zu tausend Franken. Dagegen protestierten über 10 000 BauarbeiterInnen. Mit Erfolg: Anfang Dezember einigten sich die Baumeister mit den Gewerkschaften Unia und Syna auf das Rentenalter 60 ohne Leistungsabbau. Dazu wurden die Beiträge an die Stiftung erhöht. Ein Kompromiss, mit dem Piraino leben kann. «Lieber etwas mehr Beiträge zahlen und dafür keine Erhöhung des Pensionsalters», sagt er. Und freut sich für die Malerinnen und Gipser in der Deutschschweiz und im Tessin, die nach jahrelangem Kampf in einem ähnlichen Modell nun endlich auch (wie ihre KollegInnen in der Westschweiz) frühzeitig in Pension gehen können.

Bis 65 jeden Tag bei jedem Wetter auf dem Bau schuften? Nein, das könne er sich ganz und gar nicht mehr vorstellen. So aber, mit dem Geld aus der Stiftung und aus der Pensionskasse, arbeitet er auch heute noch gern ab und zu auf dem Bau. Die gewonnene Zeit geniesst er in vollen Zügen: tagsüber in seiner Werkstatt, wo er Vespa- und Gilera-Oldtimer restauriert – und abends im Klubhaus des sizilianischen Kulturvereins sowie in diversen Tanzsälen der Region, wo er mit seiner Frau das Tanzbein schwingt.


Ninfa Schlegel sitzt in einem italienischen Restaurant im Zürcher Stadtzentrum. Sie kommt gerade von der Arbeit. «Nie hätte ich gedacht, dass ich so lange in Zürich bleiben würde. Alles war eigentlich immer provisorisch.»

Seit 1992 arbeitet Schlegel, inzwischen wieder verheiratet, in der ETH-Bibliothek – zunächst in einer Sechzig-, dann in einer Achtzig-, seit einigen Jahren wieder in einer Sechzigprozentstelle. Eine vielseitige Aufgabe, die sie gerne macht. So stellt sie etwa biografische Dossiers zusammen, berät KundInnen und gewährt ihnen je nach Bedarf auch Einblicke in Originalbriefe prominenter ZeitgenossInnen wie Mileva und Albert Einstein, Hermann Hesse oder C. G. Jung.

Im letzten Winter jedoch litt sie zunehmend an den Symptomen eines Burn-outs. Kurz zuvor war ihr zweiter Exmann unerwartet verstorben, der Vater ihres Sohns, zu dem sie in den letzten Jahren ein sehr gutes Verhältnis hatte. Im Februar wollte Schlegel mit der Bibliotheksarbeit aufhören – und sich zu ihrem 62. Geburtstag im Juni frühpensionieren lassen. Bereits schmiedete sie Pläne: Mit der Hälfte des Geldes aus der Pensionskasse wollte sie ein Haus auf Lampedusa oder Lesbos kaufen, um dort gestrandeten Flüchtlingen helfen zu können.

Jetzt aber ist sie immer noch hier. Die Personalchefin und deren Assistentin hätten ihr vor Augen geführt, wie viel Geld sie als Angestellte des Bundes mit einem vorzeitigen Austritt verlieren würde.

Zwei Jahre noch. Höchstens. Dann möchte Ninfa Schlegel ihre Pläne verwirklichen. «Im Sommer in Zürich – und im restlichen Jahr im Süden.» Sinnvolles tun, lesen, endlich ihre Memoiren schreiben. Und vor allem: malen. Schon in jungen Jahren hatte sie künstlerisch experimentiert. Seit die Kinder ausgeflogen sind, hat sie die Malerei neu entdeckt. Zweimal schon stellte sie in der ETH-Bibliothek eine Auswahl ihrer Werke aus.

«Ja, ich freue mich auf die Pensionierung», sagt Ninfa Schlegel. Ganz nach ihrem Motto, frei nach Pablo Neruda: «Ich gestehe, ich habe gelebt.»

AHV-plus-Initiative

Eine Erhöhung der AHV um zehn Prozent für alle: Das verlangt die AHV-plus-Initiative des Gewerkschafsbunds, die am 25. September zur Abstimmung kommt. Wie nötig die Erhöhung ist, zeigen folgende Zahlen:

Heute sind über dreissig Prozent aller AHV-BezügerInnen auf Ergänzungsleistungen angewiesen, um auf einen Betrag zu kommen, der ein Leben am Existenzminimum ermöglicht.

Im Schnitt müssen RentnerInnen zwei Drittel einer AHV-Maximalrente (2350 Franken) allein für Wohnungsmiete und Krankenkassenprämie aufwenden – vor vierzig Jahren war es noch die Hälfte.

Viele Frauen, die wegen unbezahlter Arbeit über Jahre nur teilzeiterwerbstätig waren, erhalten wenig bis gar kein Geld aus den Pensionskassen. Das betrifft etwa Angestellte im Lebensmitteldetailhandel, wo heute zwar ein Mindestlohn von 4000 Franken brutto für eine Hundertprozentstelle gilt – die Angestellten aber häufig nur in tiefen Teilzeitpensen beschäftigt sind.