Reform der Ergänzungsleistungen: Wie man die RentnerInnen verarmen lässt
Nächste Woche berät die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit über die Reform der Ergänzungsleistungen. Eine Allianz von SeniorInnen-, Behinderten- und Frauenverbänden sowie Gewerkschaften will das Schlimmste verhindern.
«Im Moment kann es einem schwindlig werden», sagt Marco Medici. «Wie viele Milliarden Steuerersparnis soll man der Wirtschaft mit der Unternehmenssteuerreform III in den Rachen werfen? Sind es drei Milliarden, vier oder gar fünf? Bund, Kantone und Gemeinden werden happige Einbussen zu beklagen haben. In der Stadt Zürich spricht man von 300 Millionen!»
Seit seiner Pensionierung vor fünf Jahren setzt sich Medici, ein Urenkel Herman Greulichs, des Gründervaters der schweizerischen Sozialdemokratie, für die Rechte älterer Menschen ein. Über mangelnde Arbeit kann sich der Präsident der Avivo Zürich (Vereinigung zur Verteidigung der RentnerInnen) in diesen Zeiten nicht beklagen. Schon bei der Reform von AHV und Pensionskassen gilt es massive Angriffe abzuwehren. Mit der Reform der Ergänzungsleistungen steht nun ein weiteres Instrument zur Linderung von Altersarmut auf dem Spiel.
Ein ewiges Provisorium
Medicis Verweis auf die Unternehmenssteuerreform III (USR III), über die am kommenden Wochenende abgestimmt wird, kommt nicht von ungefähr. Denn fast gleichzeitig gelangt die Revision der Ergänzungsleistungen (EL) in die entscheidende Phase. Am nächsten Montag, einen Tag nach dem Abstimmungswochenende, berät die ständerätliche Kommission für Soziales und Gesundheit die Botschaft, die der Bundesrat im September 2016 veröffentlicht hat; voraussichtlich im Juni soll die Vorlage in den Stände- und im September in den Nationalrat kommen. Geht es nach dem Bundesrat, sollen die BezügerInnen der Zusatzleistungen auf annähernd eine halbe Milliarde Franken pro Jahr verzichten. Medicis Fazit: «Die einen – die Firmen – sollen also weniger zahlen; die anderen – die Abhängigen von Ergänzungsleistungen – weniger erhalten!»
Angesichts der Abbaupläne, die die rechtsbürgerliche Parlamentsmehrheit bei der Reform der AHV, der IV-Revision und nun auch bei der Reform der EL im Sinn hat, könnte glatt vergessen gehen, dass AHV und IV gemäss Verfassung gewährleisten müssen, dass auch Menschen, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder altersbedingt Anspruch auf eine Rente haben, ein menschenwürdiges Leben führen können. «Daher gilt für uns nach wie vor: Statt nun auch an den Ergänzungsleistungen herumzuschrauben, müsste die AHV so ausgebaut werden, dass sie ihren verfassungsmässigen Auftrag auch wirklich erfüllt», sagt Medici.
Tatsächlich handelt es sich bei den Ergänzungsleistungen noch immer um ein Provisorium. Als die EL 1965 als Anhängsel der 6. AHV-Revision eingeführt wurden, waren sie nur als Übergangslösung gedacht. Es ging darum, den landesweit rund 200 000 AHV- und IV-RentnerInnen, die zur damaligen Zeit unter dem Existenzminimum lebten, ein Mindesteinkommen zu sichern. Im Gegensatz zur Fürsorge bestand für die EL von Beginn an ein Rechtsanspruch; bis heute werden diese Leistungen für die Ärmsten nicht über Lohnprozente, sondern ausschliesslich über Beiträge von Bund und Kantonen finanziert.
Ein halbes Jahrhundert später leben in der Schweiz schon über 320 000 Menschen, deren Existenz trotz einer IV- oder AHV-Rente nicht gesichert ist. Und es werden immer mehr. Die Sparmassnahmen bei der IV in den letzten Jahren hatten zur Folge, dass der Anteil von IV-Rentenbeziehenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, von 28 Prozent im Jahr 2003 auf über 45 Prozent im Jahr 2015 gestiegen ist. Bei den AHV-RentnerInnen ist diese Quote im gleichen Zeitraum konstant bei etwa 12 Prozent geblieben – die vom Bundesrat vorgeschlagenen Kürzungen würden für derzeit etwa 200 000 SeniorInnen zu weiteren schmerzlichen Einschränkungen führen. Die Folge davon: Immer noch mehr RentnerInnen wären auf Sozialhilfe angewiesen. Zumal davon auszugehen ist, dass der rechtsbürgerlichen Mehrheit im Parlament die vom Bundesrat vorgeschlagenen Sparmassnahmen von geschätzten 474 Millionen Franken – 97 Millionen beim Bund, 206 Millionen (plus 161 Millionen bei den Prämienverbilligungen) in den Kantonen – noch viel zu gering sind.
«Falsche Anreize»?
Der Bundesrat betont, das System der EL «optimieren und von falschen Anreizen befreien» zu wollen. Anlass dazu gibt ihm der Kostenanstieg bei den EL von 2,3 auf 4,8 Milliarden Franken in den letzten fünfzehn Jahren. Um das Sparkapital der obligatorischen beruflichen Vorsorge besser zu schützen, soll der Bezug des Altersguthabens aus der zweiten Säule vor dem Eintritt ins Pensionsalter beschränkt werden – ganz ausgeschlossen werden soll er für den Fall, dass jemand eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufnimmt. Dadurch soll das Risiko minimiert werden, dass Vorbeziehende infolge eines vorzeitigen Verbrauchs oder eines Konkurses nur noch Anspruch auf eine geringe Rente haben und später auf EL angewiesen sind. Für den Erwerb von Wohneigentum hingegen soll ein Vorbezug weiterhin möglich sein.
Des Weiteren sollen die Vermögen stärker berücksichtigt werden. So will der Bundesrat die Freibeträge auf den Gesamtvermögen senken: Alleinstehende dürften demnach nur noch über ein Vermögen von maximal 30 000 Franken frei verfügen (statt wie bisher 37 500), Ehepaare über 50 000 (statt 60 000). Zudem: Statt EL-Beziehenden wie bisher eine kantonale oder regionale Durchschnittsprämie der Krankenkassenversicherungen anzurechnen, sollen Kantone neu die effektive Prämie als Mass nehmen können. Und schliesslich soll ein allfälliges Erwerbseinkommen von EhegattInnen ohne eigenen EL-Anspruch voll (und nicht wie bisher zu zwei Dritteln) als Einnahme verbucht werden. Ursprünglich wollte der Bundesrat auch das hypothetische Erwerbseinkommen bei IV-RentnerInnen – das Erwerbseinkommen, auf das sie freiwillig verzichten – voll in der EL-Berechnung berücksichtigen. Dieser Vorschlag ist nach der Vernehmlassung weggefallen: Hypothetische Erwerbseinkommen sollen demnach wie bisher – gleich wie tatsächliche Erwerbseinkommen – nach Abzug eines Freibetrags zu zwei Dritteln berücksichtigt werden.
Bereits liegen zusätzliche Sparvorschläge auf dem Tisch. Sei es eine EL-Obergrenze pro Person, wie sie die FDP und die CVP festschreiben wollen – oder eine noch tiefere Vergütung der Krankenkassenprämien sowie die Pflicht, EL zu versteuern, wie es sich die SVP wünscht.
Auf der anderen Seite hat sich ein breiter Zusammenschluss von Gewerkschaften, SeniorInnen-, Behinderten-, Frauen- und MieterInnenorganisationen bis hin zum Bäuerinnen- und Landfrauenverband oder der Grossmütter-Revolution formiert. «Dieser Schulterschluss von vielen politisch unterschiedlich gefärbten Organisationen ist erfreulich», sagt Medici. Unter der Federführung des Gewerkschaftsbunds ist vergangene Woche gar eine offizielle «Allianz Ergänzungsleistungen» an die Öffentlichkeit getreten. Ihre grössten Kritikpunkte: die Senkung der Vermögensfreibeträge, die volle Berücksichtigung des Erwerbseinkommens von EhegattInnen und der Abbau bei der Vergütung der Krankenkassenprämien.
Die Argumente, die gegen diese Vorschläge sprechen, liegen auf der Hand: «Auch Rentnerinnen und Rentner brauchen eine kleine finanzielle Reserve», erklärt Medici. «Kommt hinzu: Die Erhöhung der Vermögensfreibeträge 2008 war eine Gegenleistung für die Mehrbelastung der pflegebedürftigen Personen bei der Neuordnung der Pflegefinanzierung im Krankenversicherungsgesetz.»
Nicht zuletzt die Behindertenorganisationen reagieren besonders empfindlich auf die geplante Reduktion der Vermögensbeiträge: «Gerade für Heimbewohner hat dies einschneidende Folgen», schreibt Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen. «In den meisten Kantonen verfügen sie nur über sehr bescheidene Beiträge zur Finanzierung ihrer persönlichen Auslagen. Um die elementaren Bedürfnisse abdecken und angemessen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können, sind sie daher auf ihr Vermögen angewiesen.»
Das Problem der Mieten
Wenn es denn darum geht, haushälterischer mit den Ergänzungsleistungen umzugehen, sollte eines nicht vergessen werden: Hauptverantwortlich für den massiven Kostenanstieg in diesem Bereich sind die hohen Kosten für Heimaufenthalte. Die Kantone bezahlen heute über zwei Milliarden Franken für «heimbedingte Mehrkosten». So gesehen nehmen die EL praktisch die Funktion einer Pflegeversicherung ein. In vielen Fällen beschränkt sich diese aber auf die Finanzierung eines Heimaufenthalts. Damit die Pflege und Betreuung auch zu Hause voll ausgeschöpft werden kann, bräuchte es daher auch eine Garantie, dass die Kosten für Pflege, Betreuung und hauswirtschaftliche Leistungen gedeckt werden können. Solange sich aber viele betreuungsabhängige RentnerInnen wegen der bestehenden Regelungen das Wohnen zu Hause gar nicht mehr leisten können, werden die Kosten weiter ansteigen.
Marco Medicis grösste Wut richtet sich darauf, dass die von der Linken seit Jahren geforderte, dringend notwendige Erhöhung der Mietzinsmaxima in die langwierige EL-Reform gepackt wurde – und nicht, wie einst auch vom Bundesrat vorgesehen, separat behandelt wird: «Das ist für uns unakzeptabel, da so die längst fällige Erhöhung der anrechenbaren Mietzinse auf die lange Bank geschoben wird.»
Die Auswirkungen dieser Verzögerungstaktik bekommen über 40 000 EL-Beziehende zu spüren, deren Bruttomiete höher ist als der Maximalbeitrag von jeweils 1100 Franken. Konkret: Einer Rentnerin, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen ist und für ihre Wohnung 1300 Franken zahlen muss, bleiben für den Lebensbedarf nicht mehr wie vermeintlich garantiert 1600, sondern nur noch 1400 Franken im Monat.
Es droht ein Kuhhandel
Die Integration des Themas in die EL-Revision ist aus einem weiteren Grund gefährlich: «Als integraler Bestandteil der Gesamtrevision könnten die Mietzinszuschüsse Teil eines Kuhhandels werden – und als Druckmittel für weitergehende Sparmassnahmen missbraucht werden», befürchtet Medici. «Zur Erinnerung: Seit 2001 sind die Mietkosten bei den EL nicht mehr angehoben worden, obwohl die Teuerung seither 21 Prozent betrug!» Zwar habe die Allianz die Frage eines Referendums noch nicht ausdiskutiert. Gerade auch aus diesem Blickwinkel, so Medici, sei es aber wichtig, «dass die Mietzinsvorlage nicht in die Gesamtrevision mit einbezogen ist, da man eine Erhöhung der Mietzinszuschüsse ja kaum mit einem Referendum bekämpfen will».
Tatsächlich wurden die Mietzinsmaxima bei Ergänzungsleistungen in der Herbstsession 2015 im Ständerat zunächst als separate Vorlage behandelt. Und trotz des Befunds des Ständerats, das Problem sei zu dringlich, hielt die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats im Februar 2016 mit dreizehn zu zwölf Stimmen an ihrem Beschluss fest, mit der Detailberatung zu warten, bis die Botschaft des Bundesrats zur EL-Reform vorliegt. Will heissen: Das akute Problem soll erst im Rahmen der Gesamtreform angegangen werden.
Fazit: Für über 40 000 Menschen – ein Fünftel aller EL-Beziehenden – funktioniert die Existenzsicherung durch die EL bis auf weiteres nicht. Ihnen bleibt nur noch der Gang auf das Sozialamt.
Das Existenzminimum
Das monatliche Existenzminimum für EL-Beziehende setzt sich zusammen aus einer Pauschale für: den Lebensbedarf (Alleinstehende: 1600 Franken; Paare: 2400 Franken); die Miete (Alleinstehende: maximal 1100 Franken; Paare: 1250 Franken) sowie die obligatorische Krankenversicherung (Durchschnittsprämie). EL-Beziehende zahlen zudem keine Billag-Gebühren.
Eine wichtige Aufgabe übernehmen die EL bei der Finanzierung eines Heimaufenthalts. Ende 2015 wohnten gemäss Pro Senectute 48 500 der insgesamt 197 417 Menschen im Pensionsalter, die EL bezogen, in einem Pflegeheim.