Israels kritische Soldatinnen: Die Mutigen

Nr. 37 –

Über tausend Israelis haben für das Projekt «Breaking the Silence» ihre Erfahrungen aus dem Militärdienst veröffentlicht. Die Regierung will gerichtlich erzwingen, dass sie nicht länger anonym bleiben dürfen. Dabei zeigen schon jetzt viele ihr Gesicht.

  • Nadav Weiman: «Ich habe mein Schweigen gebrochen, weil mir nach meinem Militärdienst klar wurde, dass man kein aufgeklärter Besatzer sein kann. Du kannst die Sachen nicht ‹anders› angehen. Es gibt keinen guten Weg, mitten in der Nacht mit einer Waffe in ein Haus einzudringen.» Hauptfeldweibel Nadav Weiman, Aufklärungseinheit der Nachal-Brigade, posiert in Dschenin im Westjordanland mit seinem Scharfschützengewehr. Privatarchiv, aufgenommen zwischen 2005 und 2008.
  • Weiman posiert in der Waschküche einer Unterkunft für Jugendliche in Tel Aviv, wo er als Jugendberater arbeitet. Foto: Violeta Santos-Moura, 2013.
  • Yael Lotan: «Die Menschen in Israel verstehen nicht, was die Menschen in den besetzten Gebieten durchmachen. Täglich ruinieren wir ihr Leben, und es herrscht eine Art Konsens, dass das okay ist. Wir sollten darüber reden.» Feldweibel Yael Lotan, Späherin der Field Intelligence Unit, auf einem Schützenpanzerwagen im nördlichen Gazastreifen. Privatarchiv, aufgenommen zwischen 2002 und 2003.
  • Lotan mit ihrer Katze Nushi in ihrem Garten in Tel Aviv. Foto: Violeta Santos-Moura, 2015.
  • Achiya Schatz: «Ich habe kaum jemals Terroristen angetroffen. Ich traf auf Familien, Kinder, ältere Menschen. Aber wir behandelten sie wie Terroristen. Richteten den Gewehrlauf auf ihr Gesicht, redeten aggressiv auf sie ein, stets mit dem Blick durchs Visier.» Hauptfeldweibel Achiya Schatz, Antiterror-Spezialeinheit Jechidat Duvdevan, in Vollmontur mit Negev-Maschinengewehr im Westjordanland. Privatarchiv, zwischen 2005 und 2008.
  • Schatz mit Poi-Jonglierketten während einer Pause auf dem Dach seines Büros in Tel Aviv. Foto: Violeta Santos-Moura, 2015.
  • Avihai Stollar: «Ich kann mich nicht erinnern, mich während meiner anderthalb Wochen in Jatta jemals in echter Gefahr befunden zu haben. Da waren bloss Kinder, die aus der Ferne Steine auf uns warfen. Aber wir antworteten mit Tränengas und Gummigeschossen.» Hauptfeldweibel Avihai Stollar, Lavi-Infanteriebataillon, auf Nachtpatrouille in den südlichen Hebron-Hügeln während der zweiten Intifada. Privatarchiv, aufgenommen zwischen 2001 und 2004.
  • Stollar gibt in Tel Aviv ein Fernsehinterview. In den vergangenen sieben Jahren leitete er das Forschungsteam von Breaking the Silence. Foto: Violeta Santos-Moura, 2013.
  • Avner Gvaryahu: «Irgendwann begriff ich, dass man nur aufsteigen konnte, wenn man tötete. Wir waren die Speerspitze. Die Armee hatte Jahre in uns investiert, jetzt wollte der Kommandant tote Terroristen sehen. Für Verhaftungen waren andere zuständig.» Hauptfeldweibel Avner Gvaryahu mit seiner Panzerabwehr-Fallschirmjäger-Einheit in der Küche einer palästinensischen Wohnung in Nablus. Privatarchiv, aufgenommen zwischen 2004 und 2007.
  • Gvaryahu in der Küche seiner Wohnung in Tel Aviv. Mittlerweile ist er mit seiner Frau nach New York gezogen, um an der Columbia-Universität Menschenrechte zu studieren. Foto: Violeta Santos-Moura, 2013.
  • Vor der Klagemauer in der Altstadt Jerusalems stehen israelische Rekrutinnen bei einer Graduiertenfeier in Formation. Foto: Violeta Santos-Moura
  • In Ostjerusalem versammeln sich palästinensische ZivilistInnen, um den Gedenktag der palästinensischen Nakba zu begehen. Vor ihnen steht ein berittener Polizist, links reihen sich Soldaten und Grenzpolizisten auf, um Proteste zu unterbinden. Foto: Violeta Santos-Moura
  • Palästinenser bitten einen israelischen Grenzschutzbeamten, einen Checkpoint passieren zu dürfen. Am letzten Freitag des Ramadan wollen sie nach Jerusalem in die Al-Aksa-Moschee. Foto: Violeta Santos-Moura

Wie die meisten jüdischen Israelis befasst sich Jehuda Schaul als Achtzehnjähriger erstmals mit der Rolle seines Landes als Besatzungsmacht. Zu Beginn des 32-monatigen obligatorischen Militärdienstes kam er auch erstmals mit PalästinenserInnen in Kontakt.

«Direkt nach der Ausbildung setzte man mich an ein mit Granaten bestücktes Maschinengewehr», erinnert sich Schaul an seine erste militärische Erfahrung, die er 2001, mitten in der zweiten Intifada, in Hebron machte. «Ich musste auf Wohnhäuser schiessen, das nannte man Präventivschlag.» Danach verbrachte er viele Nächte seiner Dienstzeit mit Hausdurchsuchungen in der grössten Stadt des Westjordanlands, die zum Brennpunkt der Besatzung geworden war. «Wir haben die Wohnungen auf den Kopf gestellt und meist jemanden verhaftet. Dabei wussten wir vorher, dass es dort keine Verdächtigen gab.»

Jehuda Schaul war nicht der erste und einzige Soldat, den die Realität schockierte. Trotzdem herrscht in der israelischen Gesellschaft bis heute eine Art Tabu: Auch Schauls älterer Bruder erzählte zu Hause kaum etwas von seinem Militärdienst. Deshalb gründete Schaul 2004 mit gleichgesinnten früheren Kampfsoldaten die Organisation Breaking the Silence (das Schweigen brechen). Sie sammelten Erfahrungsberichte von Hunderten anderer SoldatInnen. Aus diesen Berichten und aus Fotos von SoldatInnen erstellte Schaul eine Ausstellung, die in Israel hohe Wellen warf und die Organisation schlagartig bekannt machte. Später wurde daraus ein Buch, das von verschiedenen Verlagen in etlichen Sprachen publiziert wurde, 2012 auch auf Deutsch.

Das Projekt zeugt vom Bedürfnis vieler junger SoldatInnen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Rund 1100 SoldatInnen haben bisher im Rahmen von Breaking the Silence ausgesagt. Doch sie gelten für weite Teile der israelischen Bevölkerung als VerräterInnen. Und zwar als besonders schlimme, weil sie aus der Mitte der Gesellschaft stammen. Die vielen israelischen Menschenrechtsgruppen können an den linken politischen Rand gedrängt und ignoriert werden. Aber Hunderte SoldatInnen, das ist eine ganz andere Dimension – pure Subversion. Dabei wird der Organisation und ehemaligen SoldatInnen auch vorgeworfen, feige zu sein, weil sie die Aussagen grundsätzlich anonym veröffentlichen. Gemäss Schaul würden die jungen Israelis sonst ihre Sicherheit aufs Spiel setzen.

«Lange wurden wir nur verbal verunglimpft», sagt Jehuda Schaul, «aber seit unserem neusten Buch zum Gazakrieg von 2014 werden wir auch physisch, politisch und juristisch angegriffen.» Es gab mehrere Attacken auf Informationsstände; es gab Vorstösse, die Organisation zu verbieten oder zumindest aus den Schulen zu verbannen. Und seit diesem Mai gibt es eine Klage der Staatsanwaltschaft, die an die ursprüngliche Fassung des Interviews mit einem Soldaten gelangen will, in dem dessen Identität ersichtlich ist. Der Soldat ist Zeuge eines mutmasslichen Kriegsverbrechens während der israelischen Angriffe auf Gaza – er war aber möglicherweise auch selbst daran beteiligt. Am 20. September findet die zweite Anhörung im Prozess statt.

«Verlieren wir den Prozess, sind wir am Ende», sagt Schaul. Dann könnten staatliche Stellen auch die Herausgabe anderer Interviews erzwingen. «So würden nur noch wenige Soldaten mit uns reden. Die israelische Öffentlichkeit könnte dann noch weniger über die Realität der Besatzung erfahren.»

Dabei gibt es unter den ehemaligen SoldatInnen über hundert Mutige, die ihre Identität längst offengelegt haben. Einige von ihnen hat die Fotojournalistin Violeta Santos-Moura porträtiert und ihre Bilder neben Erinnerungsfotos aus dem Militärdienst gestellt. Die Portugiesin, die in Tel Aviv lebt, lernte Breaking the Silence durch das erste Buch kennen und nahm kurz darauf an einer der Touren nach Hebron teil, die die Organisation regelmässig unternimmt, um Interessierten die Auswirkungen der israelischen Besatzung aufzuzeigen.

Seither begleitet sie verschiedene der ehemaligen SoldatInnen und dokumentiert deren Alltag im zivilen Leben. «Mir wurde bewusst, dass ich da mit Menschen herumhänge, die später vielleicht als Helden anerkannt werden, weil sie einen historischen Wandel mit herbeigeführt haben», sagt sie. «Es sind normale Leute, die ihr Bestes tun, um die Zustände zu ändern.» Mit dem auf diesen Seiten präsentierten Fotoprojekt will Santos-Moura Breaking the Silence «ein Gesicht geben».

Und es gibt Hoffnung. Seit die Organisation so stark unter Druck geraten ist, gibt es auch eine neue Welle der Unterstützung in Israel. Sogar namhafte frühere Generäle sind Teil davon, weil sie den politischen Auftrag, den die Armee ausführen muss, zunehmend kritisieren. «Die Leute merken, dass es nicht nur um Breaking the Silence geht», sagt Jehuda Schaul. «Es geht um die Verteidigung der letzten Überbleibsel einer liberalen Demokratie.»

Zur kompletten Fotoreportage: www.violetamoura.eu/2441545-breaking-their-silence#1