Israels Weg zum autoritären Staat: «Wer soll uns schützen?»
Mit neuen Gesetzesvorstössen will die israelische Regierung weitere NGOs und Menschenrechtsaktivist:innen kriminalisieren und die Unabhängigkeit der Justiz aushebeln. Zu Besuch bei denen, die jetzt bedroht sind.

Amir Ziv könnte bald zum letzten Mal seine Geschichte erzählen. Seit dreizehn Jahren zeigt der ehemalige Soldat Israelis und Besucher:innen aus dem Ausland die Auswirkungen der Besetzung des Westjordanlands. «Ich dachte als Soldat, ich kann den Palästinensern, den israelischen Siedlern und meinen Kameraden zeigen, dass es einen guten Weg gibt», erzählt der 36-jährige Religionslehrer bei einer Tour der Organisation Breaking the Silence (BTS) Ende Februar den rund zwanzig Teilnehmer:innen während der Busfahrt aus Tel Aviv hinaus. Während seines Dienstes in der Stadt Hebron habe diese Überzeugung drei Tage gehalten.
Zivs Geschichte erzählt von Menschlichkeit und universellen Rechten – in einer Zeit, in der nach dem Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober 2023 und nach neunzehn Monaten erbarmungsloser Angriffe der israelischen Armee auf Gaza der Hass auf beiden Seiten unversöhnlicher scheint als je zuvor. «Ich bin mit der Überzeugung aufgewachsen, dass Israel Frieden will, aber keinen Gesprächspartner auf der anderen Seite hat», sagt Ziv, der selbst Freunde bei palästinensischen Terroranschlägen verloren hat. Der Dienst als Besatzungssoldat habe dieses Weltbild zerbrechen lassen.
Viele der Teilnehmer:innen – ob aus Spanien, Dänemark oder Israel – hören zum ersten Mal aus erster Hand von der Realität in Hebron. Sie erfahren unter anderem, dass im Zentrum der zweitgrössten palästinensischen Stadt im Westjordanland seit Jahrzehnten rund 800 radikale Siedler:innen inmitten von mehr als 200 000 Palästinenser:innen leben. Rund um die Uhr werden die Siedlungen von mindestens 650 Soldat:innen geschützt. «Am 7. Oktober 2023 waren mehr Truppen in Hebron als entlang der Grenze zum Gazastreifen», sagt Ziv und zeigt auf einer Karte die für Palästinenser:innen gesperrten Strassen im Stadtzentrum.
Mit Trump fallen weitere Hürden
Geht es nach Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner rechtsreligiösen Regierung, sollen Stimmen wie Ziv bald verstummen. «Von der Zerstörung der Demokratie zum Aufbau einer Diktatur», warnt die NGO Vereinigung für Bürgerrechte in Israel (ACRI) in einem Bericht Anfang Mai ungewohnt deutlich. Für die kommenden Monate lägen Dutzende Gesetzesvorschläge auf dem Tisch, die das Fundament für ein autoritäres System legen würden: Einschränkung der Meinungsfreiheit, der Presse, des Demonstrationsrechts.
«Breaking the Silence» bedeutet übersetzt «Das Schweigen brechen»: 1400 Soldat:innen haben seit der Gründung 2004 über das berichtet, was sie im Dienst erlebt haben. Jede Veröffentlichung muss von der israelischen Militärzensur freigegeben werden. Manche Berichte über das Vorgehen Israels in Gaza wären ohne die Aktivist:innen kaum möglich gewesen, etwa solche über den Einsatz von Palästinenser:innen als menschliche Schutzschilde oder ihre Misshandlung in israelischen Gefangenenlagern.
Die Aktivist:innen gelten bei den Anhänger:innen der politischen Rechten und der Siedler:innenbewegung seit jeher als Verräter:innen. Seit dem Terrorüberfall der Hamas werden sie aber auch von vielen liberalen Israelis kritisiert. Sie würden vor dem Hintergrund des zunehmenden Antisemitismus dem Ansehen des jüdischen Staates schaden. Die Extremisten in der Regierung haben darin eine Chance erkannt, die zwischen allen Fronten zerriebenen unbequemen Stimmen auszuschalten.
Israels liberale Zivilgesellschaft habe in ihrer Geschichte viel Gegenwind erfahren, sagt der bekannte Menschenrechtler Jehuda Schaul in einem Café in Jerusalem nahe der Knesset, dem israelischen Parlament. Der Mann mit dem grau melierten Vollbart und der schmalen Brille hat BTS mitgegründet. Er ist sich sicher: Noch nie war die Zukunft der Menschenrechtsarbeit in Israel so bedroht wie jetzt.
Der Tag des Amtsantritts von Donald Trump sei entscheidend gewesen, sagt Schaul. Seither würden Vorhaben so schnell in Bewegung gesetzt, dass kaum noch jemand den Überblick behalte: der lange angestrebte Justizumbau, die versuchte Absetzung der Generalstaatsanwältin, eine Kampagne gegen die israelische Presselandschaft, zählt Schaul auf. Selbst wenn manche der Gesetzesvorschläge aberwitzig klängen: «Es hat Strategie. Sie werfen hundert extreme Vorhaben in den Ring, ein paar kommen durch.»
Zuletzt wurde Ende März ein Kernaspekt des Justizumbaus durchgewinkt, gegen den in den vergangenen zwei Jahren Hunderttausende protestiert hatten. Die Regierung bekommt damit mehr Einfluss auf die Auswahl der obersten Richter:innen. Das geht auf Kosten der Gewaltenteilung, die in Israel vor allem durch den Obersten Gerichtshof garantiert wird.
Bekannte NGOs vor dem Aus
Auch die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wird durch neue Gesetzesvorschläge bedroht: So sieht ein geplantes NGO-Gesetz eine achtzigprozentige Steuer auf Fördergelder von ausländischen Staaten vor. Viele der bekanntesten israelischen Menschenrechtsorganisationen, die einen Grossteil ihrer Förderung aus Töpfen ausländischer Regierungen beziehen, stünden vor dem Aus: B’Tselem, Peace Now, Breaking the Silence. Zudem kann das Finanzministerium Organisationen von den Regelungen befreien. «Die Regierung bekommt dadurch die Kontrolle über die NGO-Landschaft», fasst Schaul zusammen. Im Mai 2023 war ein ähnlicher Vorschlag noch durch diplomatischen Druck aus den USA und Europa verhindert worden. Diesmal ist zumindest aus Washington kein Gegenwind zu erwarten. Ohne Druck von europäischen Staaten, allen voran Deutschland, sieht Schaul kaum Chancen, die Vorhaben noch zu stoppen.
Ein Klima der Angst
Ein weiterer Gesetzesvorschlag soll es ermöglichen, die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof mit bis zu fünf Jahren Haft zu bestrafen. Dieser hatte im November einen internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joav Gallant wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazakrieg ausgestellt. Zusammen mit dem Dekret von US-Präsident Donald Trump gegen den Strafgerichtshof verbreiten diese Massnahmen schon jetzt in der israelischen NGO-Szene ein Klima der Angst.
Keine von mehreren angefragten NGOs will sich dazu äussern. «Wir setzen unsere Arbeit fort, aber weil wir die persönlichen Konsequenzen für unsere Mitarbeiter nicht abschätzen können, stellt uns das vor eine grosse Herausforderung», sagt ein Sprecher mit der Bitte, den Namen der Organisation nicht zu erwähnen. Denn das geplante Gesetz könnte nicht nur direkte Zuarbeit strafbar machen, sondern auch die Veröffentlichung von Informationen, auf die der Gerichtshof selbstständig zugreift. Betroffen wären zahlreiche bekannte Organisationen, deren Publikationen wichtige Recherchearchive zur Menschenrechtslage darstellen.
Bedrängt von rechts aussen
Wenige Hundert Meter von der Knesset entfernt liegt der oberste Gerichtshof Israels, ein Justizpalast aus Glas und beigem Jerusalemer Kalkstein. In der weiten Wartehalle vor den Gerichtssälen streift sich an einem Morgen Mitte März Rechtsanwalt Oded Feller die schwarze Gerichtsrobe über. «Der Gerichtshof ist aus der Arbeit vieler NGOs kaum wegzudenken», sagt Feller. Diese Tatsache hätten auch rechte Aktivist:innen in den vergangenen Jahren verstanden und seien immer häufiger und organisierter zu Anhörungen erschienen.
«Sie filmen oder bedrängen uns und schreien uns an», sagt Feller, der seit 25 Jahren als Menschenrechtsanwalt für die NGO ACRI arbeitet. Besonders im Fokus: Fälle, bei denen es um Palästinenser:innen geht. Ha-moked, eine auf die juristische Vertretung von palästinensischen Mandant:innen spezialisierte NGO, hatte zwischenzeitlich eine private Sicherheitsfirma engagiert.
Das Vertrauen vieler NGO-Mitarbeiter:innen, durch die Polizei geschützt zu werden, nimmt seit dem Amtsantritt des rechtsextremen Polizeiministers Itamar Ben-Gvir stetig ab. «Wer soll uns schützen, wenn der Polizeichef und immer mehr Kommandeure selbst loyal gegenüber rechtsreligiösen Siedlern sind?», fragt Fellers Kollegin Sivan Tahel, bei ACRI zuständig für Polizeigewalt.
Der Druck auf die Gerichte steige, sagt Feller. «Wir können uns ausmalen, wie viel Gewicht der Oberste Gerichtshof künftig noch für den Schutz von NGOs in die Waage werfen kann, wenn er um sein eigenes Überleben kämpft.»
Jüdisch-israelische Organisationen geraten damit zunehmend unter einen Druck, dem palästinensische Menschenrechtler:innen bereits seit langem ausgesetzt sind. Schon 2021 unter dem damaligen Verteidigungsminister Benny Gantz, der sich heute als Oppositionsführer und Gegenpol zu Netanjahu präsentiert, wurden sechs palästinensische zivilgesellschaftliche NGOs als «Terrororganisationen» deklariert, darunter Al-Hak und der Häftlingsverband Addameer. Googelt man etwa den palästinensischen Anwalt Amal Oraby auf Hebräisch, stösst man als Erstes auf eine rechte Hetzkampagne. «Mein Vater hat mich neulich angerufen und gefragt: Was hast du getan? Sie reden über dich in der Knesset!», sagt er am Telefon.
Oraby schreibt als Kolumnist für hebräische und arabische Zeitungen und hat lange Palästinenser:innen aus Ostjerusalem gegen die Vertreibung aus ihren Häusern verteidigt. Letzten Juli verlor er beinahe seine Lizenz, weil er den rechtsextremen Minister Ben-Gvir als «Unterstützer des Terrors» bezeichnet hatte. «Jeden Tag werden faschistische Ansichten normaler», sagt Oraby.
Er sei als Palästinenser an der Uni, vor Gericht oder im Ministerium oft der einzige Araber im Raum. Oraby lacht viel, während er erzählt. Eine lustige Geschichte sei meist effektiver als ein hundertseitiger Bericht: «Wir werden oft ausschliesslich als Terroristen beschrieben. Humor ist meine Verteidigung gegen unsere Entmenschlichung.»
Seinen Humor braucht auch Ahmed Muna im Educational Bookshop in Ostjerusalem. Zum zweiten Mal in gut einem Monat standen Anfang März ein Dutzend Polizisten vor der Tür der bei Palästinenser:innen wie jüdischen Israelis beliebten Buchhandlung in der Salah-al-Din-Strasse. «Dieses Mal wurden mein Vater, mein Onkel und ich festgenommen. Ich wette, nächstes Mal ist Onkel Murad dran», sagt der 33-Jährige mit den grauen Locken mit einem Augenzwinkern.
Die Durchsuchungen hätten angesichts der alltäglichen Razzien im Westjordanland wohl kaum für Aufsehen gesorgt, wäre der Laden der Buchhändlerfamilie Muna nicht eine Anlaufstelle für den jüdisch-palästinensischen Dialog, beliebt bei Diplomatinnen, Politikern und Aktivistinnen.
Anfang April ist von den Durchsuchungen nichts mehr zu sehen. Im Regal stehen Bücher von Edward Said und Amos Oz nebeneinander, zwei der bekanntesten palästinensischen und israelischen Schriftsteller:innen. Beim zweiten Mal habe für die Durchsuchung gereicht, dass ein rechter Aktivist sie bei der Polizeistation um die Ecke angeschwärzt habe, sagt Muna. «Das bedrückt mich am meisten, dass sie nicht einmal mehr einen Durchsuchungsbefehl eingeholt haben.»
Wenn er von den Haftbedingungen erzählt, wirkt Muna noch immer gereizt: Von einem Moment auf den anderen seien er und sein Onkel mit Handschellen in Gefängniszellen gebracht worden. «Vier auf vier Meter, zehn Leute, Betten aus Beton – weil wir Bücher verkaufen.» Ausgerechnet im jüdischen Staat mit seiner Geschichte müssten doch Bücher einen besonderen Schutz haben. «Sie haben uns die Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen.» Für Muna ein weiterer Schritt, mit dem der Raum für öffentliche Debatten in Israel verengt wird.
Angestrebte Annexion
Südlich von Jerusalem muss der Bus von Breaking the Silence Ende Februar auf einem Parkplatz vor dem Checkpoint Turkumija, dem Übergang ins Westjordanland, stoppen. Kaum sind die zwei Dutzend Teilnehmer:innen ausgestiegen, fährt ein gepanzerter Militärjeep vor, schwer bewaffnete Soldaten springen heraus. Ziv bleibt ruhig, er kennt die Prozedur. «Wir sprechen jede Tour vorab mit der Armee ab, sie wussten, dass wir kommen», erklärt Ziv einigen nervös blickenden Teilnehmer:innen. Wenig später klingelt sein Telefon. «Die Armee hat Hebron für heute zum Sperrgebiet erklärt», verkündet er. «Wir müssen umdrehen.»
Solche Verbote habe es auch früher gegeben, doch zuletzt hätten sie abermals zugenommen. Im Westjordanland schreite unter dem Siedler und Finanzminister Bezalel Smotrich eine «De-facto-Annexion» voran, so Ziv. Neugierige Augen seien unerwünscht. Ob er nicht die Hoffnung verliere, dass dieser Konflikt je enden werde, fragt eine der Teilnehmerinnen. Ziv erzählt vom Karfreitagsabkommen in Nordirland, das mit überraschendem Erfolg eine ebenfalls scheinbar endlose Gewaltspirale zwischen den republikanischen und den loyalistischen Gruppierungen beendete. Doch auch für ihn gibt es eine Grenze: «Ich habe noch vierzehn Jahre Zeit, damit meine heute dreijährige Tochter nicht mehr als Soldatin zur Armee muss.»
Mitarbeit: Hanna Israel.