Unesco-Schulen: «Kennst du den Dativ?»
Das Gymnasium Liestal ist eine von rund sechzig Schulen in der Schweiz, die sich den Zielen und Werten der Unesco verpflichten. Jetzt haben SchülerInnen ein Projekt mit Flüchtlingen auf die Beine gestellt und damit ein Netz geschaffen, das bereits weit über die Schule hinausreicht.
Die Jugendlichen stehen in Grüppchen im ersten Stock des lichtdurchfluteten Atriums zusammen und quasseln vergnügt. Nun kommt ein Junge mit Baseballkappe die Treppe hoch und wird mit Hallo begrüsst. Ein Mädchen stellt eine Schachtel mit duftenden Guetsli auf einen der Tische, die sich vor der Bibliothek aneinanderreihen. Drei Jugendliche breiten daneben Bücher, Stifte und Schachteln mit Kartenspielen aus. Mittendrin steht eine Box mit Schubladen, die einzelnen Fächer beschriftet mit «Tigrinisch», «Arabisch», «Farsi», «neutral» und «Materialien». Es ist kurz vor 18 Uhr. Gleich beginnt am Gymnasium Liestal der Unterricht: Deutsch für Flüchtlinge. Doch wer in der bunten Schar der Jugendlichen ist nun SchülerIn, und wer ist Flüchtling?
Die Idee, Flüchtlinge in deutscher Sprache zu unterrichten, wurde Anfang März 2015 geboren: an der Jahrestagung der Unesco-assoziierten Schulen in Luzern. Das Gymnasium Liestal gehört seit über zwanzig Jahren dazu – bloss war das bis dahin den allerwenigsten SchülerInnen überhaupt bewusst. Unesco-assoziierte Schulen verpflichten sich, Werte wie Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität und die Achtung der Menschenrechte zu vermitteln und sich für Frieden und Völkerverständigung einzusetzen. Am Gymi Liestal geschah dies bis 2015 fast ausschliesslich auf einer eher theoretisch-abstrakten Ebene im Rahmen des regulären Unterrichts. «An der Unesco-Tagung fanden wir heraus, dass es an anderen Schulen konkrete praktische Projekte gibt», erzählt Judith Ebnöther, die zusammen mit einer Kollegin als Schülerschaftsdelegierte teilnahm. «Warum also nicht auch hier in Liestal?»
Ein fulminanter Auftakt
Besonders begeistert hat die beiden das Projekt «Deutsch für Asylsuchende», das SchülerInnen an der Kantonsschule Zürcher Oberland 2012 im Rahmen eines Freifachs auf die Beine gestellt hatten. Die Deutschkurse sind kostenlos und finden immer freitags ab 16 Uhr statt, mit anschliessendem gemeinsamem Nachtessen. So etwas wollten Judith Ebnöther und ihre Kollegin auch in Liestal auf die Beine stellen.
Zusammen mit einer Lehrerin, die ebenfalls an der Jahrestagung teilgenommen hatte, gründeten sie am Gymi die Unesco-Kommission. Im Juni lancierten sie als Erstes eine Antirassismuskampagne – diese machte die Unesco-Gruppe schlagartig in der ganzen Schule bekannt. Vier Tage lang tauchten an Wänden, Zimmertüren und vor den WCs immer wieder neue Plakate auf: «Kein Zutritt für Brillenträger», «Heteros bleiben draussen», «nur für reinrassige Schweizer». Eine Art paradoxe Intervention, die erst am fünften Tag aufgelöst wurde.
«Das hat super funktioniert», sagt Konrektorin Annemarie Schaub. «Es gab viele Diskussionen. Manche Schüler wurden so wütend, dass sie die Plakate abrissen.» Schaub ist sichtlich stolz auf das Engagement der Unesco-Gruppe. Geld kann die Schulleitung zwar nicht zur Verfügung stellen, sie unterstützt die Projekte der Unesco-Gruppe ansonsten aber, wo sie nur kann. Ab Februar 2017 sollen die Unesco-Projekte im Rahmen von sogenannten Akzentkursen dann Teil des regulären Unterrichts werden. Interessierte SchülerInnen der 3. Klassen können in diesem Semesterkurs eines der Unesco-Hauptziele in der Form eines konkreten lokalen Projekts umsetzen (vgl. «Sechzig Schweizer Schulen» im Anschluss an diesen Text). Dafür werden die SchülerInnen sogar ein Zertifikat erhalten. Darin ist aufgelistet, was sie konkret getan und welche Kompetenzen sie sich dadurch erworben haben. «Mit dem Diplom wollen wir nicht nur ihr Engagement würdigen», sagt Schaub, «es ist auch für ihr späteres Berufsleben wichtig.»
Im Atrium ist es still geworden, die Jugendlichen haben sich in die verschiedenen Unterrichtszimmer zurückgezogen. Wenige Schritte den Gang hinunter klebt ein Blatt mit der Aufschrift «Einsteiger» neben einer geöffneten Tür. Drinnen sitzen die Jugendlichen in Kleinstgruppen zusammen. Zwei junge Männer füllen gemeinsam mit einer jungen Frau einen Lückentext aus – es wird viel gefragt, erklärt und gelacht. Am andern Ende der Tischreihe beugen sich zwei Jugendliche über ein Lehrbuch, eine Schülerin sitzt ihnen gegenüber. Weiter vorn im Zimmer spielen drei Jungen und zwei Mädchen Karten: Auf den Karten sind einfache Zeichnungen und ein Wort oder eine Wortgruppe abgebildet – über einer aufgehenden Sonne steht «heute», über einer Sprechblase mit Einzelbuchstaben «spricht». Beim wechselseitigen Ablegen und Zusammensetzen der Karten entstehen so ganze Sätze. Das Resultat wird gerade mit viel Gelächter quittiert.
Dass seit April jeden Mittwochabend zwischen zwanzig und fünfzig Flüchtlinge den Weg zum Gymi Liestal unter die Füsse nehmen, ist keine Selbstverständlichkeit. «Zu Beginn wussten wir überhaupt nicht, wo anfangen», sagt Judith Ebnöther. «Wir hatten nicht mal einen Ort für den Deutschkurs.» Ein erster Ansatzpunkt war der «Runde Tisch Asyl», den die evangelische Kirche Liestal Anfang 2016 eröffnete. Deborah Nobs besuchte mit den SchülerInnen das lokale Asylheim. «Die Gefühle waren auf beiden Seiten gemischt», erinnert sich die Lehrerin. «Die Schüler waren nach dem Besuch ziemlich schockiert über die beengenden Lebensumstände und den völligen Mangel an Privatsphäre.» Nach den Sportferien trafen sich Judith Ebnöther und ein paar weitere SchülerInnen mit einer Sozialarbeiterin, die in MigrantInnenkreisen gut vernetzt ist und ihnen erste Kontakte vermitteln konnte.
Meister der Improvisation
Als eigentlicher Katalysator für das Projekt entpuppten sich die Aufführungen der Theatergruppe am Gymnasium im März: Das Stück «Nach Europa» basierte auf dem Buch «Drei Frauen» von Marie NDiaye und thematisierte die Situation von Menschen auf der Flucht. Parallel zu den Aufführungen fanden verschiedene Gesprächsrunden mit Flüchtlingen statt. «Das hat unter den SchülerInnen enorm viel ausgelöst und viele zum Engagement im Deutschkursprojekt motiviert», sagt Annemarie Schaub.
Zum ersten Deutschkurs in der reformierten Kirche mit anschliessendem Znacht kamen 25 Flüchtlinge – in der Woche darauf drängten sich über 70 Personen im Raum. Das war der Moment, in dem die Schule einsprang und ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. «Unser Team aus Schülerinnen, Schülern und begleitenden Lehrerinnen und Lehrern wurde dabei zu Meistern der Improvisation», sagt Maja Ruef. «Zum Kochen organisierten wir kurzerhand eine Kochplatte aus dem Physikzimmer.» Auch der Hausabwart stand mit Rat und Tat zur Seite.
Ein paar Türen weiter den Gang hinunter sind «Fortgeschrittene» am Werk. Mehrere junge Männer werden einzeln im Schreiben betreut, zwei Jugendliche lesen zusammen einen Comic. Gesprochen wird nur im Flüsterton. Ab und zu dringt Gelächter aus dem Zimmer nebenan herüber. Dort spielt ein knappes Dutzend junger Frauen und Männer «Wer bin ich?». Noch stecken sie in den Vorbereitungen, es herrscht Verwirrung, Wortfetzen in Schweizer Mundart, Hochdeutsch und anderen Sprachen schwirren durch den Raum. Schliesslich haben alle ein gelbes Post-it mit dem Namen einer berühmten Person auf der Stirn kleben, von der sie selbst nicht wissen, um wen es sich handelt. Durch Fragen müssen sie es herausfinden, die andern in der Runde dürfen nur mit Ja oder Nein antworten.
«Ich liebe dieses Spiel», sagt Maryam Hashem, eine Gymischülerin mit afghanischen Wurzeln, «denn so bringt man die Leute rasch zum Reden.» In ihre Muttersprache Farsi übersetzt sie nur im Notfall. Maryam Hashem ist über das Theaterprojekt zum Deutschkurs gestossen: Sie hat in einer der damaligen Gesprächsrunden für einen afghanischen Flüchtling gedolmetscht. Damals, im März, sprach dieser noch kaum ein Wort Deutsch. Heute sitzt er mit einem Post-it auf der Stirn mitten in der Runde. «Er hat schon mega gut Deutsch gelernt», sagt sie stolz.
Die Flüchtlinge bringen enorm unterschiedliche Sprachkenntnisse und -niveaus mit. Manche haben einen Universitätsabschluss aus ihrem Heimatland in der Tasche, andere können kaum lesen und schreiben. Nicht alle kommen regelmässig in den Kurs, die Zusammensetzung ist jeden Mittwoch wieder anders. Das verlangt viel Improvisationstalent von den GymischülerInnen. Sie teilen die Anwesenden von Woche zu Woche in verschiedene Niveaugruppen auf. Die Stichfrage für die Einteilung zu den Fortgeschrittenen lautet: «Kennst du den Dativ?» Obwohl es kaum je um den Dativ geht, sondern darum, möglichst viel zu reden. Zu diesem Zweck haben die GymischülerInnen sogar eigenes Unterrichtsmaterial entwickelt, oft verbunden mit Spielen. Wichtig ist ihnen darüber hinaus auch, möglichst konkret auf die spezifischen Bedürfnisse der Flüchtlinge eingehen zu können. Der Unterricht findet auch deshalb meist in Kleinstgruppen von ein bis zwei Flüchtlingen pro SchülerIn statt.
Gespräch wichtiger als Grammatik
An einem der Tische vor der Bibliothek sitzt Deborah Nobs mit einem Mann Mitte zwanzig vor einem Laptop. Fawad (die Nachnamen der Flüchtlinge kennen weder die SchülerInnen noch die LehrerInnen) ist Zahnarzt aus Afghanistan und seit sieben Monaten in der Schweiz. Er hat noch Mühe mit der Tastatur und dem Alphabet. Deshalb hilft ihm die Lehrerin beim Aufsetzen eines Inserats, mit dem er jemanden für kostenlosen Tandemunterricht sucht: Er will so noch besser Deutsch lernen und im Gegenzug jemandem seine Muttersprache Dari beibringen.
In einer Nische gegen Ende des Gangs sitzt Ozair, ebenfalls aus Afghanistan, einer Gymischülerin gegenüber und konjugiert Verben. «‹Du wirfst›, heisst es», sagt sie gerade, «nicht ‹du werfst›.» Ozair ist seit einem halben Jahr in der Schweiz und geht noch in Liestal zur Schule. Er besucht jeweils nach der Schule noch einen weiteren Deutschkurs, denn nach den Sommerferien will er möglichst bald eine Lehre beginnen – am liebsten im Pharmaziebereich. Den Deutschunterricht am Gymi Liestal verpasst er nie. «Ich komme lieber hierher», sagt er. «Dieser Kurs ist viel besser, um sprechen zu lernen.» Und er fühlt sich wohl hier unter all den Gleichaltrigen.
Die Möglichkeit, nach dem Unterricht noch gemeinsam zusammensitzen und plaudern zu können, stand für die GymischülerInnen von Anfang an im Zentrum. Deshalb stecken sie auch so viel Energie in die Organisation rund um das Essen – auch wenn dies nach wie vor der grösste Kostenpunkt ist. Zu Beginn haben sie Spenden gesammelt, mittlerweile bringt der Verein Schweizer Tafel jeden Mittwoch Lebensmittel am Gymi vorbei. Das Hilfsprojekt sammelt schweizweit bei Grossverteilern und Detailhändlern Lebensmittel mit abgelaufenem Verkaufsdatum und verteilt diese gratis an soziale Institutionen. Aus dem Gelieferten stellen die SchülerInnen bis am Abend ein Menü zusammen.
Freunde gefunden
Heute, am letzten Kursabend vor den Sommerferien, gibts einfach ein Potluck Supper. Auf den Tischen vor der Bibliothek reiht sich ein Buffet mit Brötchen, Aufschnitt, Käse, Fertigsalaten, Kirschen, Bananen, Fruchtsäften und selbstgebackenen Kuchen und Torten. Im Hintergrund thront ein Berg aus buntem Plastikgeschirr. Der Unterrichtsteil ist mittlerweile beendet, und die Jugendlichen sitzen und stehen erneut gruppenweise im Atrium, plaudernd, lachend, mampfend.
Eine Schülerin zückt ihr Handy und sucht nach dem Video, das jemand von der letzten Spendenaktion mit Essen und Musik in einem Liestaler Park gemacht und über den Gruppenchat des Kurses auf Whatsapp verschickt hat. «Die Afghanen fanden unsere Musik so langweilig, dass sie einfach selber einen ihrer traditionellen Tänze aufgeführt und uns zum Mitmachen aufgefordert haben.» Sie zeigt auf einen jungen Mann im Film, der sich aus einem Kreis aus singenden und rhythmisch klatschenden Menschen eine Frau angelt und mit ihr in der Mitte zu tanzen beginnt. Keine fünf Sekunden später setzt sich die Frau wieder in den Kreis zurück, worauf alle, die mittlerweile um das Handy stehen, in schallendes Gelächter ausbrechen. «Typisch Schweizerin – kaum drinnen, schon wieder draussen!»
Ansonsten ist die Unterscheidung zwischen SchülerInnen und Flüchtlingen immer noch alles andere als augenfällig. Es gibt kaum einen Altersunterschied. Einzig der Deutschunterricht hat klargemacht: Unter den Flüchtlingen gibt es, heute zumindest, nur Männer. Während die grosse Mehrheit der LehrerInnen weiblich ist. Zu Beginn hätten jeweils noch zwei, drei Frauen am Kurs teilgenommen, danach nicht mehr, erzählt Maryam Hashem. «Sie kommen aus Kulturen, in denen die Sphären von Frauen und Männern stark getrennt sind. Ich glaube, sie brauchen einfach noch ein bisschen mehr Zeit.»
Dass die Rollenverteilung im Deutschunterricht – und damit auch jene von Flüchtlingen und Einheimischen – so geschlechtsspezifisch ist, scheint auf beiden Seiten aber niemanden zu stören. «Es tut den jungen Männern doch gut, auch ausserhalb des Asylzentrums mit Frauen Kontakt zu haben», ist Maryam Hashem überzeugt. «Hier sind sie nicht Flüchtlinge, hier sind sie Schüler. Und wir haben alle eine Menge Spass miteinander.» Aus den persönlichen Begegnungen sind tiefe Beziehungen entstanden. «Von ‹Flüchtlingen› spricht hier niemand mehr», sagt Hashem, «wir haben Freunde gefunden.»
Sechzig Schweizer Schulen
Die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) rief 1953 zur Förderung des Weltfriedens ein weltweites Netzwerk an Schulen ins Leben: Menschenrechte, Nachhaltigkeit, Toleranz, Bekämpfung der Armut und globale Entwicklung gehören zu den zentralen Themen. In der Schweiz setzen sich sechzig Unesco-assoziierte Schulen – meist Gymnasien – für diese Ziele in Unterricht und Projekten ein, weltweit sind es über 9500.
Wichtige Aktivitäten beinhalten in der Schweiz die jährlich an verschiedenen Universitäten durchgeführten Simulationen einer Uno-Vollversammlung. Einzelne Schulklassen vertreten dabei die Interessen und Positionen eines zugewiesenen Landes in Verhandlungsdelegationen und Debatten im Plenum. Viele Schulen organisieren auch einen Austausch mit Partnerschulen aus andern Ländern und reisen zu Unesco-Stätten. Und die Kantonsschule am Burggraben in St. Gallen organisierte 2015 im Vorfeld der Klimakonferenz internationale Klimadialoge mit SchülerInnen aus andern Ländern.