Obstbau im Südtirol: Gift, Galle und Gelassenheit
In Mals haben die BürgerInnen synthetische Pestizide im Obstbau verbieten lassen. Seither ist das Südtiroler Dorf tief gespalten. In der Nachbargemeinde Schlanders sieht man das alles lockerer.
Wenn Ulrich Veith jemanden begrüsst, dann tut er dies gebührend. Der Bürgermeister von Mals zieht seinen Gast zu sich heran, schüttelt ihm enthusiastisch die Hand. Er fragt nach dem Befinden, offeriert einen der Polstersessel in seinem Büro und schenkt Bioapfelsaft ein.
Warum der 46-jährige Familienvater dem letzten Dorf im Südtiroler Vinschgau vorsteht, wird klar, wenn er von jenem Thema spricht, das sogar ein japanisches Fernsehteam nach Mals reisen liess: dem Einsatz von synthetischen Pestiziden in der Landwirtschaft. «Die Apfelmonokulturen haben in der Bevölkerung Ängste ausgelöst», sagt Veith, «sowohl bei den Anwohnern als auch bei den Biobauern, die um ihre Existenz fürchten.» Er habe wissen wollen, wie sehr es die 5000 BewohnerInnen tatsächlich beschäftige – und liess sie darüber abstimmen. Und siehe da: Drei Viertel der Stimmenden sprachen sich gegen den Einsatz «sehr giftiger, giftiger, gesundheitsschädlicher und umweltschädlicher chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel und Herbizide auf dem Gemeindegebiet» aus.
Das war 2014. Im März dieses Jahres ist die neue Regelung in Kraft getreten. Seither dürfen gewisse synthetische Pestizide gar nicht mehr gespritzt werden, andere nur noch mit einem Abstand von fünfzig Metern zu Schulen, Wohnhäusern, Friedhöfen, Wander- und Fahrradwegen – was dank der kleinen Landwirtschaftsparzellen ebenfalls einem Verbot gleichkommt.
Atemprobleme und Hautreizungen
Es ist kurz nach sieben Uhr morgens, die meisten der rund 300 Bauern im Dorf haben ihre Bewässerungsanlagen eingeschaltet. Die Plantagen kommen dicht an die Wohnhäuser heran, an einzelnen Stellen bleiben nur wenige Meter Platz. Das Vinschgau, der letzte Seitenarm Italiens vor den Grenzen Österreichs und der Schweiz, ist seit Jahrzehnten beliebter Boden für ApfelproduzentInnen. Durch das allgemein wärmer werdende Klima rückten sie immer weiter vor im Tal – bis nach Mals auf gut tausend Metern über Meer. Dort weideten bisher Kälber und Kühe, ab und an hatte einer Gemüse oder Getreide gepflanzt, aber kein Obst. Als Ende der nuller Jahre überall Obstplantagen auftauchten und die BäuerInnen mit ihren Traktoren plötzlich bis vor die Haustüren spritzten, erschraken die BewohnerInnen. Denn die BäuerInnen spritzten nicht nur Wasser, sondern auch Pestizide.
Man wusste von weiter unten im Tal, was diese auslösen können. TouristInnen, die mit ihren Bikes nach Süden Richtung Meran rasselten, klagten über entzündete Augen, Atemprobleme und Hautreizungen. Als oberhalb von Mals tote Ziegen und Schafe gefunden wurden, die auf einer mit Pestizidabdrift behafteten Wiese geweidet hatten, kochte es im Dorf. «Es war klar, dass wir an dieser Situation etwas ändern müssen», sagt Ulrich Veith, «wir wollten keine Verhältnisse wie in unseren Nachbargemeinden.»
Morddrohung und Grabschändung
Während in Nachbargemeinden die KritikerInnen der Pestizideinsätze schwiegen oder nicht gehört wurden, wurden in Mals Diskussionsveranstaltungen und Aktionstage organisiert, Rundschreiben und Leserbriefe geschrieben. Doch die besorgten BewohnerInnen merkten bald, dass sich an den Praktiken der konventionell wirtschaftenden Bauern nichts änderte. So formierte sich ein Unterstützungskomitee, das das Thema zur Abstimmung bringen wollte – mit Unterstützung diverser Biolandbaubetriebe, von denen es im Obervinschgau 25 gibt. Die Landesregierung in Bozen reagierte umgehend: Der Gemeindepräsident würde seine Kompetenzen überschreiten und müsse im Fall einer Abstimmung mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen.
Gleichzeitig verschärfte sich im Dorf der Umgangston. Eine Gruppe von DorfbewohnerInnen erhob Klage gegen Veith und das Unterstützungskomitee. Der Komiteesprecher bekam anonyme Anrufe, in denen ihm mit dem Tod gedroht wurde. Eines Nachts verwüsteten Unbekannte sein Familiengrab, ein paar Nächte später seinen Garten. Das Gift aus der chemischen Industrie zersetzte das Dorfklima.
Heute, zwei Jahre nach der Volksabstimmung, sei die Stimmung zwar nicht mehr ganz so angespannt, heisst es. Doch der Streit ist nicht beigelegt. Inzwischen haben 43 GrundeigentümerInnen Rekurs gegen die Initiative beim Südtiroler Verwaltungsgericht eingelegt. Ihr Argument: Für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist nicht die Gemeinde zuständig, sondern das Land Südtirol, der italienische Staat und die EU. Öffentlich äussert sich von den AbstimmungsgegnerInnen kaum jemand, aus Verunsicherung, aus Angst vor bösen Blicken – und weil auch sie eingestehen, dass synthetische Pestizide nicht ungefährlich sind.
«Die Fronten sind verhärtet», sagt ein Mitarbeiter der Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft, wo ProduzentInnen ihre Pflanzenschutzmittel kaufen. «Man setzte auf den radikalen statt auf den friedlichen Weg.» Bevor der junge Mann weiterspricht, bittet er ins Hinterzimmer; sein Chef wolle nicht, dass an der Kasse über das Thema gesprochen werde. Er selbst möchte anonym bleiben. «Die Vinschgauer Bauern fühlen sich hier nicht mehr wohl und kaufen lieber woanders ein», sagt der Verkäufer. Der Umsatz mit Pestiziden sei vergangenes Jahr um dreissig Prozent eingebrochen. Immerhin führt die Genossenschaft heute auch fünf neue biologische Mittel für den Hausgebrauch.
«Egal ob Bio oder nicht Bio»
Von Mals aus fünf Stationen mit dem Zug Richtung Meran liegt die Gemeinde Schlanders. Hier haben in den vergangenen Jahren viele Bauern ihre Produktion freiwillig auf Bio umgestellt. Der Anblick der Felder auf der Zugfahrt erinnert an die endlosen Plantagen Argentiniens – nur dass hier nicht Soja, sondern Äpfel angebaut werden. Je weiter südlich wir kommen, desto dichter stehen die Bäume an den Gleisen. Immer wieder wird der Zug von den Bewässerungsanlagen bespritzt.
Im Biorestaurant Anna im Zentrum von Schlanders sitzen ein paar Obstbauern beim mittäglichen Kartenspiel. Wieder mal ein Journalist, der zu Mals recherchiere, scherzt die Mitinhaberin des Lokals und Biobäuerin. Einer ihrer Kollegen am Tisch sagt: «Gott sei Dank habe ich dort keine Felder.» Rund um seine Plantage seien alles Biobauern, mit denen habe er nie Probleme gehabt. Er schaue, dass er nicht bei Wind spritze, und er habe sich spezielle Düsen gekauft, damit keine Abdrift in Nachbars Bäume gelangen. «Schliesslich sind wir aufeinander angewiesen. Egal ob Bio oder nicht Bio.»
In Schlanders bleibt man gelassener als in Mals. Auch Rudi Tappeiner, der 2015 nach 35 Jahren konventionellem Anbau auf Bio gewechselt hat. Er sitzt auf einer Holzbank ausserhalb des Dorfs, vor sich die Pinova-Äpfel-Plantage eines Kollegen. Seit der Umstellung hat sich die Wahrnehmung des Obstbauern gewandelt. «Du merkst, dass du mit der Natur arbeiten musst und dass deine Handlungen Konsequenzen haben.» Früher sei das anders gewesen. Wenn ein Pilz oder ein Insekt aufgetaucht sei, habe man einfach das passende Mittel gespritzt – ohne zu fragen, woher das Problem kommen könnte.
Heute wachsen zwischen den Apfelbäumen von Rudi Tappeiner wieder Kräuter und Blumen, die er früher literweise mit Herbiziden tötete. «Heute muss ich mir keine Gedanken mehr machen, welches Mittel ich wann gespritzt habe und ob ich nun aus gesundheitlichen Gründen besser noch ein paar Tage warte, bis ich wieder in die Plantage gehe.»
Neben Tappeiner sitzt der Besitzer der Pinova-Reihen, Patrick Gamper. Er ist Vorstandsmitglied des Verbands Bioland Südtirol und war 1992 dabei, als sein Vater auf Bio umstellte. Das sei die erste Biowelle im Vinschgau gewesen. Eine weitere könne man im Moment beobachten, sagt Gamper. Im vergangenen Jahr haben in ganz Südtirol 55 Landwirtschaftsbetriebe auf Bio umgestellt, die meisten davon im Vinschgau. Allein in Schlanders waren es 16.
«Dennoch», betont der 46-Jährige, ein überzeugter, konventionell arbeitender Bauer sei ihm lieber als ein «zwangsmissionierter Papierbiobauer». Angesprochen auf Mals, reagieren die beiden gereizt. Mit der Volksabstimmung habe man versucht, einen Keil zwischen die BäuerInnen zu treiben und sie in Bio und nicht Bio einzuteilen. Das habe für Misstrauen unter Kollegen gesorgt, auch in Schlanders. «Man kann nicht von heute auf morgen sagen: ‹So, und jetzt produzierst du anders›», sagt Gamper. BäuerInnen würden in 15-Jahr-Rhythmen denken.
Mals und Schlanders: zwei Gemeinden, zwei Wege im Umgang mit Pflanzengiften. In Schlanders, wo der Obstbau zum Dorfbild gehört, macht man keinen Hehl aus den Pestizideinsätzen und verweist auf andere Gefahrenquellen: Abgase, Putzmittel, Insektensprays. Mals aber, wo der Obstbau noch jung ist, hat mit seiner Volksabstimmung eine Diskussion angestossen, die es in Europa sonst nicht gibt.
«So steht es in der Verfassung»
«Pestizide und deren Einfluss auf die Gesundheit waren ein Tabuthema», sagt Ulrich Veith und leert sein zweites Glas Apfelsaft. «Viele sind froh, dass nun darüber gesprochen wird.» Mals hat den Konflikt in Kauf genommen und sich mit zwei grossen Gegnern angelegt: dem Bauernbund und der chemischen Industrie. Wie viel Einfluss diese haben, wird sich im laufenden Gerichtsverfahren zeigen. Mals würde den Entscheid nach Rom weiterziehen, sagt Ulrich Veith. «Denn als Gemeindepräsident bin ich verantwortlich für die Gesundheit der Bürger.» So stehe es in der Verfassung.