Hillary Clintons Niederlage: Keine Mutter für die Nation

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Als in den USA das Frauenstimmrecht eingeführt wird, ist Mary Sue Wilson noch ein kleines Mädchen. Inzwischen ist sie 101 – und berichtet auf einem Internetportal vom überwältigenden Gefühl, endlich eine Frau zur Präsidentin zu wählen. Am Wahltag ist Wilsons Hoffnung enttäuscht worden. Statt Hillary Clinton wird Donald Trump ins Weisse Haus einziehen.

Clintons Niederlage hat verschiedene Gründe: die Frustration einer weissen Mittelschicht, die um ihre Privilegien fürchtet, genauso wie einen strukturellen Rassismus, der unter Barack Obama noch grösser geworden ist. Hinzu kommt eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die statt sozialer Gerechtigkeit VerliererInnen produziert. Diesen Faktoren werden nun ausführliche Analysen gewidmet. Zuweilen geht dabei unter: Clinton hat nicht zuletzt auch deshalb verloren, weil sie eine Frau ist.

«Viele Wähler sehen im Präsidenten den Vater der Nation», sagte Clintons Wahlkampfmanager 2008, als Obama Kandidat der Demokraten wurde. Eine Mutter der Nation wollen viele auch heute offenbar nicht. Dass eine Mehrheit der weissen Frauen Trump gewählt hat – einen vulgären Sexisten, der seinen Umgang mit dem anderen Geschlecht vom «Playboy» gelernt hat –, überrascht dabei nur auf den ersten Blick. Für sie scheinen die Privilegien ihrer Hautfarbe wichtiger als das Geschlechterbild des künftigen Staatsoberhaupts. Und wie viele Männer meinen sie, ein «demografisch symbolträchtiger» Präsident sei genug.

«Weisse Frauen sehen sich der Versuchung ausgesetzt, sich dem Unterdrücker anzuschliessen, weil er ihnen die Teilhabe an der Macht vortäuscht», schrieb die Feministin Audre Lorde vor über dreissig Jahren. Geändert hat sich daran wenig. Entsprechend stimmten nun 96 Prozent der schwarzen Frauen für Clinton. Wie alle anderen Minderheiten werden sie die Auswirkungen von Trumps Präsidentschaft am deutlichsten zu spüren bekommen. Die doppelte Diskriminierung, der sie ausgesetzt sind, liess sie diese Gefahr erkennen.

Clintons Niederlage wird für alle Frauen in den USA konkrete Folgen haben. Trump will Abtreibungen unter Strafe stellen. Und mit Stephen Bannon ernannte er einen Mann zum Chefstrategen, der den Feminismus auf seinem rechtsextremen Nachrichtenportal mit einer Krebserkrankung vergleicht. Weil Frauen ökonomisch oft schlechtergestellt sind, wird die Wahl für sie auch wirtschaftliche Konsequenzen haben. Und die Niederlage hat eine Symbolwirkung: Sie macht klar, dass Respekt für Frauen immer von neuem erkämpft werden muss.

Dass Clinton dennoch für viele unwählbar blieb, wird gerne mit ihrer Nähe zur Wall Street und Politszene erklärt. Das Paradoxe daran: Clinton wurde für eine Verankerung im System verachtet, die ihre Kandidatur überhaupt erst ermöglichte. Nicht nur im republikanischen Lager war jahrelang versucht worden, sie systematisch zu demontieren. Dass dies nicht mit ihrer neoliberalen Politik allein zu erklären ist, illustriert der Umgang mit Obama, dessen Politik sich kaum von ihrer unterscheidet.

In den USA sind nur sechs von fünfzig GouverneurInnen und neunzehn Prozent aller Kongressabgeordneten weiblich. Clintons Niederlage heisst deshalb letztlich auch, dass eine Frau sich entscheiden muss, ob sie eine radikal-progressive Politik machen oder erfolgreich sein will. Nicht zufällig entschied sich die linke Senatorin und hartnäckige Wall-Street-Antagonistin Elizabeth Warren schon früh, nicht für das höchste Amt des Landes zu kandidieren.

Wie Audre Lorde bereits wusste, wird Schweigen niemanden schützen. Ein erstes Zeichen in diesem Sinn ist der für Ende Januar 2017 geplante «Million Women March» in Washington. Doch zugleich muss der «Kampf zur Überwindung einer auf maskulinistischen Werten basierenden Statushierarchie mit dem Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit verbunden werden», wie die US-Feministin Nancy Fraser vor drei Jahren im «Guardian» forderte. Seit dem 8. November ist dieser Kampf nur noch dringlicher geworden.