Vorwahlen in den USA: Onkel Joe oder die Gewalt der liberalen Mitte

Nr. 39 –

Die DemokratInnen suchen einen Kandidaten, der bei der Präsidentschaftswahl 2020 Donald Trump herausfordern soll. Viel spricht leider dafür, dass es Joe Biden werden wird.

Zwischen Anmassung und Ignoranz: Präsidentschaftskandidat Joe Biden nach einem Fundraising-Anlass am Montag in Philadelphia. Foto: Bastiaan Slabbers, Getty

Links und rechts nur Chaoten und Spielverderberinnen. Bernie Sanders zum Beispiel, der Sozialist mit der krächzenden Stimme, warum ist er bloss so wütend? Oder Elizabeth Warren, die pedantische Exprofessorin, die für jedes verdammte Problem einen verdammten «Plan» haben will. Und all die anderen KandidatInnen, die jünger sind und voller Energie, denen aber doch eines fehlt: Erfahrung. Wie auch ein Gefühl für das, was dieses Land jetzt braucht: Stabilität, Ruhe, Vernunft. Also genau so einen Politiker wie ihn: «Onkel Joe».

So oder so ähnlich muss sich Joe Biden Mitte September gefühlt haben, bei der dritten Fernsehdebatte der DemokratInnen in Houston, Texas, als er und die anderen TopkandidatInnen erstmals zusammen auf der Bühne standen. So oder so ähnlich denken offenbar auch Millionen US-AmerikanerInnen, die sich Biden als nächsten Präsidenten wünschen. In den meisten Umfragen liegt der 76-Jährige auf Platz eins.

Kritik ist unerwünscht

Es ist Bidens dritter Anlauf, 1988 und 2008 scheiterte er mit seiner Kandidatur. Zur Entschädigung machte ihn Barack Obama 2009 zum Vizepräsidenten, was Biden fortan nutzte, um sich in der Öffentlichkeit als eine Art Feelgoodmoderator des Landes zu inszenieren. Eine «unvergessene Bromance» nannte der TV-Sender NBC das Verhältnis zwischen Obama und Biden einmal. Eine unvollendete Karriere muss es aus Bidens Sicht eher gewesen sein. Wer den Bestseller «Die Abwicklung» des Journalisten George Packer gelesen hat, weiss, wie früh es zu Bidens Karriereplan gehörte, im Weissen Haus zu landen. Das jahrzehntelange Warten könnte jetzt ein Ende haben.

Manchmal macht Biden den Eindruck, als wäre ihm das ganze Prozedere nur lästig. Die Vorwahlen. Die Kritik aus der eigenen Partei. Die Medien, die stets nur die jüngsten ReporterInnen zu den Terminen schickten, Millennials also, die sich «jemand Cooleren» wünschten, wie eine Biden-Vertraute gegenüber dem Magazin «Politico» sagte.

Dass Biden, der Staatsmann, einfach mal an der Reihe sei, davon ist #TeamJoe überzeugt. Und wehe, jemand stellt sich quer: Staatsverrat.

Als Linsey Davis, Moderatorin des TV-Senders ABC, bei der Debatte in Houston vor ein paar Wochen davon sprach, dass das Bildungssystem schwarze SchülerInnen benachteilige, lachte Biden. Ein gequältes Lachen, das nicht nur seine schneeweissen Zähne freilegte, sondern auch seinen Unmut über das ihm unbequeme Thema. Ausgerechnet er soll sich zum Rassismus äussern? Er, Obamas Freund und Helfer? Er, Onkel Joe?

Auf die anschliessende Frage nach der heutigen Verantwortung für das Erbe der Sklaverei fiel Biden nichts Substanzielles ein. Dafür aber gab er allen afroamerikanischen Eltern ein paar Erziehungstipps mit auf den Weg – und liess damit durchblicken, wer sich seiner Meinung nach vor allem mit dem Erbe der Sklaverei auseinanderzusetzen habe: die Nachkommen der SklavInnen selbst.

Biden wollte den Irakkrieg

Aussagen wie diese, irgendwo zwischen Anmassung und Ignoranz, leistet sich Biden fortlaufend. Sein Glück ist es, dass jemand im Weissen Haus sitzt, der noch viel mehr Ausfälle produziert. «Biden verspricht sich oft und verdreht die Tatsachen, doch Trumps Lügen sind beispiellos», konstatierte das Magazin «The Atlantic» vor ein paar Wochen. So wurden jüngst Vorwürfe publik, Trump solle versucht haben, Biden zu diskreditieren, indem er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj angehalten habe, Nachforschungen über das Geschäftsgebaren von Bidens Sohn Hunter in der Ukraine anzustellen. Dem Präsidenten droht nun sogar ein Amtsenthebungsverfahren.

Joe Biden ist ein Phänomen. Der Mann hat zahlreiche politische Skandale hinter sich, er hat einst den Irakkrieg befürwortet und ist verdächtig mit der Kreditkartenindustrie verstrickt. Er wird von mehreren Frauen der sexuellen Belästigung beschuldigt und scheint auch im Jahr 2019 nicht in der Lage zu sein, mit Mädchen zu kommunizieren, ohne deren Äusseres zu bewerten. Wer mehr wissen will, muss nur «Creepy Joe» googeln. Biden spricht zwar vom «Kampf um die Seele der Nation», seine Reden kommen nicht ohne das Schlagwort «Chancengleichheit» aus. Doch nichts deutet darauf hin, dass Biden als Präsident ernsthaft für Strukturen kämpfen würde, die mehr Chancengleichheit ermöglichen.

Die von Bernie Sanders seit Jahren geforderte staatliche Krankenversicherung für alle US-BürgerInnen – «Medicare for All» – lehnt Biden ab, weil sie Obamacare ersetzen würde, also sein Bidencare, ein System, das aktuell fast dreissig Millionen BürgerInnen unversichert lässt. Einen Green New Deal, wie ihn die linke Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert, wird es mit Biden ebenso wenig geben, stattdessen hat er seinen eigenen Klimaplan veröffentlicht, der sich vor allem durch Unbestimmtheit auszeichnet. Auch andere Vorschläge, zum Beispiel der vollständige Schuldenerlass für StudentInnen, eine Finanztransaktionssteuer oder der kostenlose Zugang zu Universitäten, gehen Biden zu weit. Sein Programm ist eine Collage aus Kompromissen, ein einziges grosses «Jein». Und so verkörpert Biden damit genau jene Politik, die Trump überhaupt erst ermöglicht hat.

Trotz seiner programmatischen Unschärfe, trotz aller Phrasen, mit denen Biden seine Visionslosigkeit zu überspielen versucht, trotz seiner regelmässigen Aussetzer, trotz des Fehlens einer Graswurzelbewegung, wie sie beispielsweise Sanders hinter sich weiss – trotz all dem hat Biden, Stand jetzt, die besten Chancen, im kommenden Jahr als Kandidat der DemokratInnen gegen Trump anzutreten. Und das dürfte vor allem daran liegen, dass er die Gefühle vieler WählerInnen zu bedienen versteht.

Das erste Gefühl, das Biden repräsentiert, ist das Gefühl von Normalität. Während Sanders und Warren die Wahl von Trump als Symptom bezeichnen, sieht Biden den US-Präsidenten als eine «Anomalie», als einen Betrug an den amerikanischen Werten. Biden bietet dem Land eine Reise zurück in den Herbst 2016 an, in eine Zeit, als noch alles gut gewesen sein soll. Diese Mischung aus Nostalgie und Fortschrittsglaube, eine Art Betäubungspatriotismus, scheinen viele US-AmerikanerInnen zu mögen.

Das zweite Gefühl, das Joe Biden bedient, ist das der Versöhnung. Bei der Wahl im kommenden Jahr gehe es nicht um seine Person, in erster Linie auch nicht um politische Inhalte, meint Biden, weshalb er auch so gerne betont, dass «Amerika eine Idee» sei. Es gehe folglich darum, das Land zu vereinen, Gräben zu schliessen. Stolz ist Biden auf seinen Ruf als Staatsmann, der für eine überparteiliche Politik steht, wofür er 2017 sogar mit dem «Javits Prize for Bipartisan Leadership» ausgezeichnet wurde.

Aus der Mitte in den Abgrund

«Electability» ist das Wort der Stunde: Wählbarkeit. Im Gegensatz zu Sanders und Warren sei Biden wählbar, sagen seine Anhängerinnen und manche Experten, der einzige Kompromiss also, auf den sich genügend WählerInnen einigen könnten, um Trumps zweite Amtszeit zu verhindern. Im Grunde macht Biden aber nur genau das, was Hillary Clinton schon 2016 erfolglos versuchte: sich zwischen linken Demokratinnen und rechten Republikanern zu positionieren, in der vermeintlich verwaisten Mitte, in der sich am Ende aber doch alle auf den Füssen stehen, die ihre Privilegien nicht gefährdet sehen möchten. Und das sind viele.

Wie diese Politik der Mitte aussieht, wessen Normalität wiederhergestellt werden soll und wie parteiisch diese Form der Überparteilichkeit ist – das zeigt auch ein Blick in Bidens parlamentarische Historie. Bis heute verteidigt der Exsenator von Delaware die von ihm mitverfasste «Crime Bill», ein Gesetz, das der damalige Präsident Bill Clinton 1994 erliess und das dazu führte, dass Hunderttausende, allen voran People of Color, für minimale Vergehen im Gefängnis landeten. Bis heute nimmt Biden Spenden von der Wall Street an. Bis heute können sich Frauen nicht sicher sein, dass Uncle Joe ihnen erlaubt, über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Biden ist das beste Beispiel dafür, wie viel Gewalt von der liberalen Mitte ausgehen kann.

Die anderen KandidatInnen «überschütten die Leute mit Ideen und To-do-Listen, während Biden sich die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören», schrieb die «Washington Post» kürzlich. Das Argument, Joe Biden sei ein guter Zuhörer, hört man immer wieder. Wer allerdings umgekehrt Biden zuhört, bekommt ausser Phrasen, Beschwörungen und Obama-Anekdoten wenig zu hören. Good old times: eine einzige Beruhigungspille für das Land.