Türkisches Tagebuch: Lindsay Lohans Erdogan-PR
Ece Temelkuran über «Shock and Awe» in der Türkei
Seit 1923 war die Türkei stets ein säkulares und modernes Land. Zwar durch Militärputsche geschwächt, überlebte die Mehrparteiendemokratie – bis Recep Tayyip Erdogan seine Ambitionen verkündete, ein Präsidialregime zu errichten. Schon heute ist er de facto die einzige politische Kraft im Land. Seit dem gescheiterten Militärputsch läuft eine Hexenjagd auf die Opposition. Die eine Hälfte des Landes leistet Widerstand, die andere hält zum Machthaber. Die Nation ist gespalten.
Erdogans Türkei ist dabei keineswegs einzigartig. Seit dem Sieg von Donald Trump ist klar, dass sich die Demokratie weltweit in der Krise befindet. Überall mobilisieren PopulistInnen gegen die fundamentalen Werte der Demokratie. Sie sind Erdogan ähnlicher, als viele meinen. Die Türkei liegt vor den Toren Europas. Ihr Schicksal sollte genau verfolgt werden, um zu erahnen, welch düstere Zukunft der Demokratie droht.
12. November: Auf Twitter kursieren liebevoll gemeinte Witze. Die TürkInnen wollen ihren reichen Erfahrungsschatz an politischen Traumata mit den AmerikanerInnen teilen. Erdogan ist unter den ersten GratulantInnen von Trump – neben Abdel Fattah al-Sisi und Marine Le Pen. Zeit für eine weltweite Party aus Anlass der Mobilisierung organisierter Ignoranz. Niedergeschlagene US-BürgerInnen sollten sich für den Kampf des Banalen gegen das Wertesystem bereithalten. Es wird sicher nicht so smart wie bei «House of Cards». Heute ist es nicht Hannah Arendts «Banalität des Bösen», sondern das «Böse der mobilisierten Banalität».
13. November: Die Literaturveranstaltung in Zagreb fühlt sich irrelevant an, wenn befreundete AutorInnen im Gefängnis sitzen. Mein Herz pocht, als ich die Passkontrolle passiere. Dieser Tage weisst du nie, wann sie deinen Pass beschlagnahmen, weil er als «verloren» gemeldet wurde. Ich weiss jetzt, warum Walter Benjamin es nicht rechtzeitig schaffte, den Nazis zu entkommen. Du weisst nie, wann es zu spät ist. Ich denke viel an die Mitglieder der Frankfurter Schule, während ich über Grenzen springe.
15. November: Auf Twitter zirkulieren noch immer Witze über Lindsay Lohan. Die Schauspielerin sei Erdogan-Fan, heisst es im Fernsehen. «Es ist grossartig in der Türkei. Frauen sind frei hier», sagte Lohan dort kürzlich. Eine bessere PR ist der Regierung wohl nicht eingefallen. «Macht die geschlossenen NGOs doch wieder auf, wenn ihr könnt», hat der Innenminister neulich verkündet. Das Selbstvertrauen der Ignoranz ist lähmend.
16. November: Regierungsnahe Medien berichten vom heutigen Minenunglück. «Acht Lastwagen und ein paar Minenarbeiter sind verschüttet worden.» Die Redaktion des Oxford-Wörterbuchs gibt das Wort des Jahres bekannt: «post-truth» – die «Beschreibung eines Zustands, in dem belegbare Fakten für die Bildung der öffentlichen Meinung weniger wichtig sind». Die Fakten sind, dass sechzehn Minenarbeiter verschüttet wurden. Und die «Wahrheit» ist, dass es eine Schande ist, stattdessen die exakte Zahl der Lastwagen zu nennen.
17. November: AKP-Abgeordnete haben einen Gesetzesentwurf gebilligt, der wegen sexueller Übergriffe auf Minderjährige Verurteilten Amnestie gewähren soll, wenn der Täter sein Opfer heiratet. Das ist es, was ich mit Angriffen auf menschliche Werte meine.
19. November: Das neue Gesetz schützt die Peiniger auch, wenn das Opfer mit seinem Vergewaltiger verheiratet ist. Widerlich. Die Frauen sind schockiert und wütend. Die Reaktionen sind heftig.
22. November: Die «Shock and Awe»-Taktik hat wieder perfekt funktioniert. Derweil alle mit dem wahnsinnigen Gesetzesentwurf beschäftigt waren, den die Regierung nun zur Überarbeitung zurückgezogen hat, sind weitere führende kurdische PolitikerInnen verhaftet worden. Sie lenken dich ab, indem sie nebenbei eigentlich unbestrittene Werte angreifen – und machen in der Zwischenzeit etwas ganz anderes. Auf CNN wird gerade über den «Alt-Right»-Chef «diskutiert», weil er infrage gestellt hat, dass JüdInnen Menschen sind. Genauso wird im türkischen Fernsehen die Heirat zwischen Minderjährigen und ihren Vergewaltigern «diskutiert». Frauenorganisationen versammeln sich aus Protest vor dem Parlamentsgebäude. Hey Lindsay, es ist wirklich grossartig hier!
Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.
Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.