Türkisches Tagebuch: Selbstgezimmerte Wahrheiten

Nr. 49 –

Ece Temelkuran zu PopulistInnen, die nichts bremsen kann

30. November: Das erste Podium auf der JournalistInnenkonferenz in Kopenhagen trägt den Titel «Sind wir realitätsfremd?». Hauptredner ist Nigel «Mr. Brexit» Farage. «Die Stimmung hier ist ja wie auf einer Beerdigung! Lasst doch die Köpfe nicht so hängen! Es war ein hervorragendes Jahr!», ruft er dem Publikum zu. Sein Tonfall könnte kaum heiterer sein. Die PodiumsteilnehmerInnen versuchen derweil, ihn mit Fakten und Statistiken auszubremsen. Und aus dem Publikum gibt es vehemente Bemühungen, ihn blosszustellen: Die ZuschauerInnen weisen auf Unstimmigkeiten hin, beharren darauf, dass er nicht die «Wahrheit» sagt. Doch die PopulistInnen von heute lassen sich nicht schlagen; sie glauben an ihre eigene Wahrheit.

Bald schon werden wir uns – ob wir wollen oder nicht – damit abfinden müssen, dass es um philosophische Fragen geht, nicht um konkrete Probleme, die mit praktikablen Antworten gelöst werden können. Wir müssen zurückgehen zu Karl Popper und seiner «offenen Gesellschaft», in der die Wahrheit vornehmlich in die Hände der «einfachen Leute» gelegt und damit zugleich suggeriert wurde, dass es besser wäre, wenn man die Intellektuellen ganz aus dem Prozess der Wahrheitsfindung ausschliessen würde. Das Vertrauen der heutigen PopulistInnen in ihre persönlichen Wahrheiten wurzelt in dieser Philosophie.

31. November: Der Brand in einem Wohnheim in der südtürkischen Stadt Adana vor zwei Tagen, bei dem elf Mädchen und eine Mitarbeiterin der Schule ums Leben kamen, hat sich als äusserst politische Angelegenheit erwiesen. Das Wohnheim gehört der radikalislamischen Sekte Süleymancilar. Weil diese «die Keuschheit der Mädchen schützen» wollte, liess sie die Feuertüren geschlossen. Die Mädchen waren zwischen zwölf und dreizehn Jahre alt. Die Sekte zählt zu den neuen Verbündeten der Staatsmacht, seit die Gülen-Bewegung als Verantwortliche für den Putschversuch in Ungnade gefallen ist. Für die RegierungsanhängerInnen sind die Mädchen «Märtyrerinnen». Wie kann man solche Leute in Verlegenheit bringen? Wie viele Fakten und Statistiken braucht es, um sie und ihre «Wahrheiten» zu erschüttern?

2. Dezember: Auf Erdogans Appell an die BürgerInnen, ihre US-Dollars gegen türkische Lira oder Gold einzutauschen, folgten überall im Land lächerliche Kampagnen. Wer dem Aufruf folgt, bekommt Köfte, Billette, sogar Grabsteine umsonst. Mich würde nicht überraschen, wenn alle, die ihr Geld weiterhin in US-Dollar aufbewahren wollen, bald schon als «Verräter» gebrandmarkt werden.

3. Dezember: Ein Taxifahrer hat heimlich die Stimme eines Fahrgasts aufgezeichnet und ihn anschliessend für die Kritik an Erdogan denunziert. Sobald wilder Populismus, primitiver Nationalismus und kollektiver Bewusstseinsverlust die öffentliche Sphäre in Beschlag nehmen, lösen sich die bewährten Wege der Rechtsfindung auf.

4. Dezember: Seit zwei Tagen sorgt eine Nachricht für Aufsehen. Ein Lehrer hat einen Lastwagen in seine Schule gebracht, weil seine geistig behinderten SchülerInnen Lastwagen lieben. Das Video, das die Freude der SchülerInnen zeigt, kursiert in den sozialen Medien überall – so als wäre ein klein wenig Güte das Gegenmittel gegen all das Böse, das uns umgibt.

5. Dezember: 170 Journalisten und Schriftstellerinnen sitzen zurzeit in der Türkei im Gefängnis. Nicht ein einziger Bericht über die Proteste für ihre Freilassung erhält auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit wie die jüngsten Absurditäten der Regierung. Vermutlich ist es an der Zeit, dass wir unsere Fragestellung ändern. Es geht nämlich nicht darum, ob wir den Draht zu den AnhängerInnen von Trump, Farage oder Erdogan verloren haben – sondern vielmehr darum, ob wir noch genug Kontakt zur Opposition halten. Die Wahrheit muss von menschlicheren Händen konstruiert werden.

6. Dezember: Bizarrer Höhepunkt der Woche ist die Geister-Exorzismus-Klinik. Bei dem riesigen Gebäude handelt es sich um ein Spital, das seinen PatientInnen «spirituelle Heilung» verheisst. Wie soll man mit derlei «Wahrheiten» umgehen, die völlig willkürlich fabriziert sind – in totaler Ignoranz gegenüber allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Menschheit?

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Daniel Hackbarth.