Bildungspolitik: Die perverse Erfüllung linken Begehrens

Nr. 4 –

Keine Grenzen, nirgendwo? Klingt gut, aber im institutionellen Alltag verkehrt sich die Vision von gelebter Transdisziplinarität zuverlässig in mehr Management. Eine Polemik.

Die Tragik der Linken ist die Erfüllung ihres Begehrens. Selten nur werden linke Anliegen unter linken Vorzeichen verwirklicht. So scheint es derzeit, als sei ausgerechnet Donald Trump dazu berufen, wirtschaftspolitische Pläne der Linken umzusetzen, derweil sich Alt-Rights und Identitäre am Erbe der Achtundsechziger gütlich tun. In Deutschland führte Reichskanzler Otto von Bismarck 1883 die Sozialversicherung ein, als «Bestechung» der «arbeitenden Klassen», wie er selbst meinte. Richard Wagners Traum vom anarchistisch-sozialistischen Gesamtkunstwerk wurde auf perverse Weise durch die alles ästhetisierende und mythologisierende, immersive Kraft der kapitalistischen Konsumkultur Realität. Die Überwindung der absoluten Armut gelang im 20. Jahrhundert nicht in sozialistischen Staaten, sondern in liberalkapitalistischen Demokratien. Und wer heute die Lebensverhältnisse in Hongkong und Festlandchina vergleicht, stellt überrascht fest, dass die turbokapitalistische Sonderverwaltungszone sozialistischer organisiert ist als die nominal kommunistisch regierte Volksrepublik.

Damit nicht genug, entwickeln real existierende Ideen Eigendynamiken, die konträr zu den Bestrebungen ihrer UrheberInnen stehen. So verhält es sich aktuell mit einer weiteren perversen Erfüllung linken Begehrens, zumindest desjenigen, das die poststrukturalistische Imprägnierung à la Michel Foucault, Jacques Derrida und Gilles Deleuze empfangen hat: Die grenzüberschreitende Multitude entpuppt sich als Vorhut der Managementisierung. Nirgendwo wird das deutlicher als in der Bildungspolitik.

Der Chef im Grossraumbüro

Die Ideenwelt von Multitude, Vielfalt, Kollaboration, Partizipation und der darauf fussende Trend zu Inter- und Transdisziplinarität prägt die Bildungspolitik nach Bologna und weit darüber hinaus. Zwar vollzieht sich in der Politik derzeit eine abschottende Reterritorialisierung, doch die Bildungspolitik ist davon – noch – weitestgehend unberührt. Agitierte die Linke in den sechziger und siebziger Jahren mit improvisatorischen, partizipativen Performances und Workshops gegen ein als redundant empfundenes bürgerliches Kunstverständnis, kritisiert sie seit jeher ein starres wissenschaftliches Schubladendenken als Symptom von Entfremdung und Zersplitterung, zielten ihre Vektoren früh schon aufs Globale, so müsste sie derzeit eigentlich in Feierlaune sein.

In Skandinavien sprengt der interdisziplinäre Phänomen-Schulunterricht die Fächergrenzen, an Hochschulen lanciert man «Critical Thinking»-Initiativen oder erwägt, wie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die Fachbereiche gleich gänzlich aufzulösen, auf dass sich die mündigen Studierenden ihr eigenes Curriculum basteln. Anderweitig treten empowernde Kompetenzen oder inter- und transkulturelles Rüstzeug an Stelle des patriarchalischen Kanons, Myriaden von exotischen Mikro- und Substudienfächern wie auch die Globalisierung der Curricula zeugen von der Pluralisierung des Denkens in multipolaren Zeiten. Jenseits der Ex-Elfenbeintürme sitzt der Chef der SBB mit seinen Angestellten im Grossraumbüro, die urbanen Lebensläufe nehmen performativ-disjunktiven Charakter an, und die Unkonventionalität reift zu einer existenziellen Tugend.

Doch wieder einmal hält die Dialektik der Geschichte Überraschungen bereit. Denn ernst genommene Transdisziplinarität, Interaktion, Kollaboration, Partizipation, Pluralität und Transversalität führen implizit zu einem erhöhten Organisations- und Koordinationsaufwand – kurz: zu mehr Management. Nüchtern betrachtet ist Management die Kunst und Technik, Pläne, Ideen und Wünsche so zu organisieren und zu koordinieren, dass sie wirksam werden. Genau dies steckt bereits in Karl Marx’ elfter Feuerbach-These von 1845, derzufolge die Philosophen die Welt bislang nur verschieden interpretiert hätten, es nun aber darauf ankomme, sie zu verändern. Mithin forderte Marx, Philosophie wirksam zu machen – und kann damit als Initiator der Managementisierung seiner Disziplin gelten.

Kant und die Diversity

Auch Antonio Negri und Michael Hardt beschwören in ihrem Buch «Empire» (2000) unfreiwillig eine Zeit eskalierenden (Mikro)Managements, wenn sie in einer besonders romantisch angehauchten Passage schreiben: «Die Menge lässt eine neue Geografie entstehen, in der der produktive Strom von Körpern neue Flüsse und Häfen ausbildet. Die Städte dieser Welt werden grosse Depots kooperierender Menschen und Lokomotiven der Zirkulation sein, temporäre Aufenthaltsorte und Netzwerke zur massenhaften Distribution lebendiger Humanität.» Das Ungedachte des hier antizipierten «neue[n] Milieus mit einem Maximum an Pluralität» ist, wie schon bei Marx, seine Anfälligkeit für ein Maximum von Managementbedürftigkeit. Vermieden werden kann diese nur, wenn die Pluralität eine bloss scheinbare ist, also Pluri-Uniformität, und etwa jene Menschen ausschliesst, die Hillary Clinton im Wahlkampf 2016 abschätzig «deplorables» nannte. Wahre Vielfalt ist schön, macht aber viel Arbeit.

Wenn an Hochschulen die ehemals wie Nationen voneinander abgeschotteten Fachbereiche geöffnet und, in Analogie zur Globalisierung, miteinander verbunden werden, steigt der Bedarf an Abstimmungen, Verständigungen, Sitzungen, Organisationstools, Administrationsstellen. Eine Meisterklasse an einer traditionellen Kunstakademie benötigt wenig bis kein Management. Progressive Tandemteachings, Koautorschaften, transkulturelle Lehre oder bereichsübergreifende Cross-, Inter- und Transprojekte indes steigern den Koordinationsaufwand immens. Immanuel Kant bedurfte keines Studiengangmanagers oder einer Diversity-Beauftragten, um seine Vorlesungen abzuhalten. Wenn aber ein irischer Biologe, eine ugandische Philosophin und ein Schweizer Wirtschaftswissenschaftler mit einer taiwanesischen Unternehmerin und einer australischen NGO in einem interuniversitären Forschungsprojekt zusammenarbeiten, sieht es anders aus. Stellen sich in derlei Kooperationen keine – und seien es noch so unkonventionelle – Professionalisierungszuwächse ein, so zerbricht das Gefüge eher früher als später.

Linkspluralistische Existenzen, so liesse sich polemisch festhalten, sind Wasser auf die Mühlen der Managementisierung des Lebens, während konservative Existenzen eine gegenteilige Wirkung haben. Traute Familienverbände oder hierarchisch organisierte Organisationen und KMUs, also die Horte des bürgerlichen Konservatismus, können sich weniger Management erlauben als aus dem progressiven Geist geborene Kollaborations- und Interaktionspluriversen. Grenzen werden gezogen, Rollen werden verteilt, Kanons werden aufgestellt, keine weiteren Massnahmen sind nötig. So konstatiert der Managementwissenschaftler Fredmund Malik: «In seiner privaten Umgebung und den kleinen Unternehmen hat kaum jemand Schwierigkeiten mit seiner oder ihrer Wirksamkeit, und wenn, dann korrigiert sich das rasch von selbst.»

Managementisierung des Lebens

Gemeinhin wird die Managementisierung des Lebens, insbesondere des universitären, in linken Kreisen als Angriff des Neoliberalismus beklagt. Doch könnte es nicht sein, dass der Neoliberalismus nur deswegen den Managementismus forciert, weil er das linke Begehren kannibalisiert hat? Weil das Leben, trotz Homogenisierung durch Kommerzialisierung, tatsächlich vielfältiger, hybrider und deswegen organisationsbedürftiger geworden ist? Der Philosoph Boris Groys argumentiert, der neoliberale Globalismus habe «auch die postkommunistische Linke integriert, denn man arbeitete ja für die Verwirklichung einer globalen Gesellschaft». Die Aufblähung der Orga- und Admin-Apparate an den Bildungsinstitutionen ist ein Symptom dafür, dass wir derzeit eine grandiose Inversion jener Einsicht von Marx und Engels erleben, die VulgärmarxistInnen gerne ausklammern: Sozialismus und Kommunismus, so die Verfasser des «Kommunistischen Manifests», seien auf den Kapitalismus angewiesen, da nur er zur Entfesselung jener Kräfte führen könne, die der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft die materiellen Grundlagen bereiteten. Dass diese Kräfte auch zur Erhaltung jener Gesellschaft benötigt werden könnten, wagten sie jedoch nicht zu denken.

Heute verhält es sich genau umgekehrt. Der neoliberale Kapitalismus ist auf direkte oder indirekte Impulse der postkommunistischen Linken angewiesen. Nicht der Neoliberalismus ist das Problem. Sondern seine linke Seite und ihr Ungedachtes.

Jörg Scheller ist Kunstwissenschaftler und Musiker. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste und leitet dort den Bereich Theorie im Bachelor Kunst & Medien. Nebenbei betreibt er den Heavy-Metal-Lieferservice Malmzeit.