Kommentar zur Haftung bei Demonstrationen: «Schlechterdings unverständlich»
Müssen DemonstrantInnen Polizeieinsätze an Kundgebungen selbst bezahlen? Auf diese Frage gibt das Bundesgericht eine unklare Antwort.
Wer eine Demonstration organisiert – oder auch nur daran teilnimmt –, bei der es zu Krawallen kommt, soll die Kosten für den Polizeieinsatz übernehmen. So steht es im neuen Luzerner Polizeigesetz. Es ist seit Anfang 2016 in Kraft und zeigt bereits Wirkung: Erstmals seit über zehn Jahren fand 2016 in Luzern keine 1.-Mai-Demonstration statt. «Das Gesetz wirkt abschreckend», sagt Jurist Markus Husmann, Vorstand der Demokratischen JuristInnen Luzern (DJL), «und greift indirekt die Versammlungsfreiheit an.» Deswegen haben die DJL Beschwerde gegen das Polizeigesetz eingereicht.
Von der Kostenabwälzung betroffen sind nicht nur unbewilligte Kundgebungen, sondern auch bewilligte, wenn die Auflagen verletzt werden. Wenn DemonstrantInnen sich etwa vermummen, sprayen, Pyros zünden oder Fensterscheiben einschlagen. In diesem Fall könnten jedem und jeder verhafteten DemonstrantIn bis zu 30 000 Franken für den Polizeieinsatz in Rechnung gestellt werden.
Am vergangenen Mittwoch kam das Bundesgericht jedoch zum Schluss: Verfassungskonform ist das nicht. Personen, die an einer bewilligten Demonstration lediglich teilnehmen, müssen den Polizeieinsatz nicht bezahlen, auch wenn es am Rand zu Ausschreitungen kommt. Zumindest nicht pauschal: Einer Person, die eine Fensterscheibe einschlägt, und einer anderen, die daneben steht, kann nicht dieselbe Geldsumme aufgebürdet werden. Aus diesem Grund hat das Bundesgericht den letzten Absatz des Gesetzesartikels komplett gestrichen, wodurch gleichzeitig auch die vom Luzerner Kantonsrat festgelegte Obergrenze von 30 000 Franken entfällt. Deswegen bringt der Entscheid neue Unklarheiten. Wie der Kanton ihn umsetzen wird, ist fraglich.
Fest steht: Das Bundesgericht stützt die Kostenabwälzung auf Demo-Organisatorinnen und Randalierer, es legt lediglich die Hürden dafür etwas höher. Im JuristInnenjargon formuliert: Statt bloss «grob fahrlässig» müssen OrganisatorInnen von Demonstrationen künftig «schlechterdings unverständlich» handeln, damit ihnen die Kosten für den Polizeieinsatz aufgebürdet werden.
Grundsätzlich sieht das Bundesgericht aber im Luzerner Polizeigesetz keinen Eingriff in die Versammlungsfreiheit – ein «unverhältnismässiger Abschreckungseffekt» liege nicht vor. Doch wie sich am 1. Mai 2016 gezeigt hat, schreckt das neue Gesetz in erster Linie jene Leute ab, die bewilligt demonstrieren wollen. Darüber hinaus lässt es wohl OrganisatorInnen zögern, eine Kundgebung überhaupt anzumelden – sie offenbaren ihren Namen und haben damit die Verantwortung und allfällige Kosten zu tragen.
Wer aber ohnehin lieber unbewilligt demonstriert, nimmt eine Verhaftung sowieso zumindest in Kauf. Dies vermochte das neue Gesetz auch nicht zu ändern: Im vergangenen Jahr fanden zwei unbewilligte Umzüge durch Luzerns Innenstadt statt. Die Polizei wusste von nichts und war dementsprechend überrascht und überfordert.
Auf verschiedene Fragen ging das Bundesgericht nicht ein. Etwa ob die Kostenabwälzung nicht an sich gegen strafrechtliche Grundsätze verstösst. Denn neben der eigentlichen Strafe müssen verurteilte RandaliererInnen künftig massive Verwaltungskosten übernehmen – dies ist weder im Strafrecht so vorgesehen, noch wird diese Praxis bei anderen Delikten angewendet. Würde man diese Logik weiterspinnen, hiesse dies, dass beispielsweise Gefangene plötzlich ihre Zelle im Gefängnis und den Lohn der Gefängnisangestellten bezahlen müssten.
Das Urteil zum Luzerner Polizeigesetz ist bedenklich. Je nachdem, wie es umgesetzt wird, höhlt es das Versammlungsrecht massiv aus und kriminalisiert DemonstrantInnen. Denn letztlich gibt es dem Staat ein Mittel in die Hand, um AktivistInnen finanziell zu ruinieren. Dennoch nehmen sich bereits andere Kantone das Luzerner Gesetz zum Vorbild: Auch der neue Entwurf des Berner Polizeigesetzes sieht eine Kostenabwälzung vor.