Gefährdete Versammlungsfreiheit : «Auch spontane Demos sind grundrechtlich geschützt»

Nr. 6 –

Wird am 3. März die Anti-Chaoten-Initiative der Jungen SVP angenommen, erhält Zürich das schärfste Polizeigesetz der Schweiz. Rechtsanwalt Markus Husmann warnt: Die Initiative zeuge von einer feindlichen Gesinnung gegenüber der Meinungsäusserungsfreiheit.

Illustration von Stephan Schmitz: Portemonnaie in Form eines Absperrgitter

WOZ: Markus Husmann, Sie sind auf Strafrecht, Grundrechte und Menschenrechte spezialisiert. Was ist aus juristischer Sicht ein Chaot, eine Chaotin?

Markus Husmann: Das ist natürlich kein juristischer Begriff, sondern ein Schlagwort der Initiant:innen. Damit zielt die Initiative auf sämtliche unbewilligte Demonstrationen ab. Eine Gruppe von Personen bekommt ein Etikett – in diesem Fall «Chaot:innen». Dieses Etikett soll eine besondere Härte rechtfertigen, die sachlich nicht angezeigt und in diesem Fall meines Erachtens auch verfassungswidrig ist. In der Kriminologie heisst so ein Vorgehen «Labeling Approach».

Über die Anti-Chaoten-Initiative der JSVP wird am 3. März abgestimmt. Wird sie angenommen, können die Kosten von Polizeieinsätzen künftig den Organisatorinnen oder Teilnehmern von Demonstrationen verrechnet werden. Wie beurteilen Sie die Vorlage?

Die Initiative zeugt von einer feindlichen Gesinnung gegenüber der Meinungsäusserungsfreiheit. Das Kernproblem ist, dass – verpackt als Gebühr – ein Sonderstrafrecht geschaffen wird. Mir erscheint sie angesichts ihres Wortlauts nicht umsetzbar, wenn sie verfassungs- oder völkerrechtskonform sein soll.

Experte für Grundrechte

Markus Husmann (38) arbeitet als selbstständiger Rechtsanwalt und ist unter anderem auf Grundrechte und Strafverteidigung spezialisiert.

Husmann ist Mitglied des Vereins Demokratische Jurist:innen Schweiz (DJS), der sich dafür einsetzt, den Rechtsstaat und die Menschenrechte in der Schweiz zu stärken. Er lebt in Luzern.

 

Portraitfoto von Markus Husmann
Foto: Marc Gilgen

Warum nicht?

Sie nimmt Demonstrationen sehr weitreichend ins Visier. Illegale Demonstrationen sollen ganz allgemein zu einer Kostenpflicht führen. Aber was ist eine illegale Demonstration? Die Initiative zielt explizit auf unbewilligte Demonstrationen ab. Doch auch spontane und unbewilligte Demonstrationen sind grundrechtlich geschützt. Gemäss konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es keine Bewilligung, um zu grundrechtlichem Schutz zu gelangen.

Ein weiterer Punkt betrifft Gegendemonstrationen. Wenn Personen oder Organisationen, die eine bewilligte Demonstration – etwa gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbruch – stören und dadurch, so der Wortlaut, rechtswidrige Handlungen befördern, sollen ihnen Kosten auferlegt werden können. Nur: Eine rechtswidrige Handlung macht eine Gegendemonstration noch lange nicht zur gewalttätigen Versammlung. Und Versammlungen sind gemäss Bundesgericht zu tolerieren, auch wenn sie stören oder zu gewissen Beschränkungen des täglichen Lebens führen, solange sie friedlich bleiben.

Die JSVP will auch eine generelle Bewilligungspflicht für Demonstrationen einführen.

Das steht im Widerspruch zur Empfehlung des Uno-Menschenrechtsausschusses. Demnach untergräbt eine Bewilligungspflicht die Meinungsäusserungsfreiheit. Es ist unbestritten, dass ein Bedürfnis besteht, den reibungslosen Ablauf von Versammlungen zu gewährleisten. Dafür erscheint mir aber ein niederschwelliges Anmeldeverfahren sinnvoller. Mein Eindruck ist, dass es den Initiant:innen ohnehin hauptsächlich darum geht, ein Instrument zu schaffen, unbewilligte Demonstrationen als illegal zu taxieren und so Veranstalter und Teilnehmerinnen mit vernichtend hohen Polizeikosten zu belasten.

Befürworter:innen der Initiative würden sagen: Wer friedlich und bewilligt demonstriert, hat nichts zu befürchten.

Gerade in einer Zeit, wo mit Social Media Politik gemacht wird, entwickeln sich politische Kontexte sehr kurzfristig und schnelllebig. Es gibt ein grosses Bedürfnis, zeitnah oder sogar umgehend – vielleicht innerhalb von Stunden oder einem Tag – zu reagieren und eine Meinungsäusserung auf die Strasse tragen zu können. Wenn eine generelle Bewilligungspflicht eingeführt wird, liegen solche spontanen Demonstrationen fortan in einem Graubereich, der für grosse Unsicherheiten sorgt. Die Initiative verkennt, dass auch unbewilligte und spontane Demonstrationen grundrechtlichen Schutz geniessen. Drohen bei solchen Demonstrationen unberechenbare und immens hohe Kosten, ist ein verfassungswidriger Einschüchterungseffekt absehbar.

Eigentlich hatte die Stadt Zürich erst im November beschlossen, dass kleinere Demonstrationen gar nicht mehr bewilligt werden müssen, sondern lediglich per Onlineformular angemeldet werden sollten.

Dieses Vorhaben versucht die JSVP-Initiative zu verhindern und zu untergraben. Wird sie angenommen, dann würde der Kanton – als übergeordnete Organisationsinstanz – der Gemeinde Stadt Zürich vorschreiben, dass sie eine generelle Bewilligungspflicht einführen muss. Das wäre auch ein Eingriff in die Gemeindeautonomie.

Der Gegenvorschlag des Kantonsrats hat die Initiative leicht abgeschwächt, an der zwingenden Kostenüberwälzung und der Bewilligungspflicht hält er aber fest. Worin unterscheidet er sich von der Initiative?

Der Gegenvorschlag erinnert an die Ausschaffungsinitiative von 2010. Da hiess es auch: Es gibt zwar einen Konflikt mit dem Völkerrecht, aber wir werden versuchen, das mit dem Gegenvorschlag verfassungskonform umzusetzen. Im Gegenvorschlag steht nun ausdrücklich die Formulierung: «unter Berücksichtigung des übergeordneten Rechts». So eine Klausel lässt mich aufhorchen. Denn sie indiziert schon, dass es bei der Umsetzung dieses Vorhabens ein Problem mit dem Völker- oder dem Verfassungsrecht geben dürfte.

Das Problem an dieser Initiative und am Gegenvorschlag ist der sogenannte Chilling-Effekt – die Abschreckungswirkung. Diesen Effekt verursacht bereits das abstrakte Gesetz. Wenn ein gewaltiger Kostenhammer droht, überlegt sich eine Person zweimal, ob sie an einer Aktion teilnimmt – auch wenn sich diese später als völlig grundrechtskonform erweist. Dann hängt über jeder Aktion das Damoklesschwert.

Inwiefern?

Es gibt immer wieder Urteile, in denen festgehalten wird, dass eine polizeiliche Intervention nicht verhältnismässig oder rechtswidrig war. Der Abschreckungseffekt funktioniert trotzdem, gerade wenn vor Ort ein riesiges Polizeiaufgebot bereitsteht. Die Instanz, die diese Kosten überwälzt, ist zudem überhaupt nicht unabhängig: Es ist dieselbe Polizei, die auf der Strasse eine Einkesselung vornimmt oder einen Wasserwerfer einsetzt – und entscheidet, ob diese Kosten überwälzt werden. Sie hat demnach ein doppeltes Eigeninteresse: einerseits ein finanzielles und andererseits ein politisches, um ihren Einsatz zu rechtfertigen.

Sie leben im Kanton Luzern, wo Kostenüberwälzungen auf Demonstrant:innen bereits 2016 eingeführt worden sind. Woher kommt diese Idee?

In Luzern wurde damals Neuland betreten. Den Anstoss gab eine parlamentarische Interpellation der CVP. Diese war schwer nachvollziehbar, weil kein konkreter Anlass dafür erkennbar war. Meiner Meinung nach ging es vor allem darum, Ängste zu schüren und zu bewirtschaften. Gleichzeitig sollten staatliche Grundleistungen – also die Polizei, die bei Demonstrationen die Verkehrsführung und allenfalls die Sicherheit gewährleisten muss – infrage gestellt werden, zulasten einer kleinen Gruppe, nämlich derjenigen, die demonstrieren. Solche polemischen Ansinnen gegen Minderheiten sind leider oft sehr populär. Meines Erachtens reiht sich diese Idee in die allgemeine Entwicklung ein, staatliche Leistungen abzubauen. Es erstaunt nicht, dass sie aus der bürgerlichen und – im Fall der neusten Initiativen – aus der rechten Ecke kommt.

Haben sich Demonstrationen in Luzern seitdem verändert?

Das ist schwer zu sagen. Mir fehlen statistische Daten dazu. Ein negativer Effekt, also der Verzicht auf Demonstrationen aus Furcht vor drohenden Kosten, ist positiv nicht messbar. Bekannt ist, dass sich für einzelne Demonstrationen keine Gesuchsteller:innen mehr finden liessen. So gab es zunächst keine antikapitalistische 1.-Mai-Demonstration mehr, die in Luzern über Jahre hinweg – notabene bewilligt – stattgefunden hatte, weil niemand als Veranstalter:in auftreten wollte.

2018 revidierte Bern das Polizeigesetz und beschloss ebenfalls Kostenüberwälzungen von bis zu 30 000 Franken pro Person. Wie zeigen sich dort die Folgen der Regelung?

Meines Wissens wurde eine Kostenüberwälzung in Bern das allererste Mal im Zusammenhang mit den Coronademonstrationen vorgenommen. Man mag von diesen Demonstrationen halten, was man will. Aber ich denke, es war kein Zufall, dass dieses Instrument der Kostenüberwälzung gerade bei diesen missliebigen und regierungskritischen Meinungsäusserungen eingesetzt wurde. Inzwischen haben die Gerichte übrigens die damaligen Demonstrationsverbote als verfassungswidrig taxiert.

Die SVP hat auch in Basel-Stadt eine Initiative für Kostenüberwälzungen lanciert. Gerade Basel ist in den vergangenen Jahren mit einem rigorosen Vorgehen gegen Proteste aufgefallen. Wie sehen Sie die Initiative in diesem Kontext?

Die SVP-Initiative schlägt natürlich in diese Bresche. Aber die Wurzeln des Problems liegen tiefer: In Basel fehlt es seit Jahren an der nötigen Sensibilität im Umgang mit Demonstrationen und eigentlich auch an Kenntnissen zum geltenden Verfassungs- und Völkerrecht. Das sieht man immer wieder, es gibt zig Beispiele. Wie letztes Jahr am 1. Mai, als die Polizei Teile des offiziellen Umzugs bereits nach wenigen Metern für Stunden einkesselte.

In Zürich lehnen die AL, die Grünen und die SP Initiative und Gegenvorschlag ab. Der Kanton würde das schärfste Polizeigesetz der Schweiz erhalten, auch Amnesty International sieht die Demonstrationsfreiheit ernsthaft gefährdet. Warum hat die Initiative dennoch Chancen?

Abstrakt sind alle für Grundrechte. Aber nur die wenigsten Menschen waren in den letzten Jahren selbst demonstrieren – jedenfalls zu einem Thema, das nicht mehrheitsfähig ist, das provoziert, bei dem man sich exponiert. Wo vielleicht nicht ganz klar ist, ob die Demonstration reibungslos verlaufen wird, weil es eine Gegendemonstration, ein gewisses Auseinandersetzungspotenzial gibt.

Warum ist Demonstrieren trotzdem wichtig?

Gerade in angespannten politischen Situationen sind Demonstrationen von überragender Bedeutung. Der besondere Wert von Demonstrationen liegt meines Erachtens darin, dass sie ein Instrument bieten, ausserhalb von jeglicher Institutionalisierung niederschwellig Kritik zu üben.

Abgesehen von juristischen Detailfragen stelle ich mir oft die saloppe Frage: Fände ich diese Gesetzgebung gut und fair, wenn sie in einem autoritären Regime eingeführt würde? Das ist mein Massstab. Wenn die Antwort «Nein» lautet – weil es zu heikel ist, weil es der Polizei ein Instrument für Willkür in die Hand gibt –, dann würde ich es besser sein lassen.