Rumänisches Kino: Vagabundieren in fremden Wohnungen

Nr. 9 –

Unberechenbar wie der Alltag: Die aktuellen Filme «Sieranevada» und «Graduation» zeigen, was das neue rumänische Kino so fesselnd macht.

Familientreffen mit Pope: Statt des toten Vaters zu gedenken, wird in «Sieranevada» von Cristi Puiu die ganze Welt und die nächste Mahlzeit verhandelt. Still: Xenix Film

In der Bukarester Innenstadt biegt ein Auto in eine enge Gasse und hält, weil kein Parkplatz in Sicht ist, auf der Fahrbahn. Eine Frau und ein Mann steigen aus und verschwinden in einem Gebäude. Der Film aber bleibt draussen auf der Strasse und beobachtet vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus, wie sich die Situation weiterentwickelt: Ein Lieferwagen biegt ebenfalls in die Gasse, kommt nicht durch, beginnt zu hupen. Die AutobesitzerInnen kehren, begleitet von einem Kind, zurück, der Mann steigt ein und fährt los, die Frau hat etwas vergessen und rennt dem Wagen nach. So geht das hin und her, über fünf Minuten lang, und obwohl wir nicht das Geringste über die Beteiligten wissen, ist die Szene absolut fesselnd.

Wer wissen möchte, warum das rumänische Kino im internationalen Festivalbetrieb nach wie vor in aller Munde ist, muss sich nur die erste Einstellung von Cristi Puius Film «Sieranevada» ansehen. Weil sie einem vor Augen führt, wie komplex und unberechenbar das alltägliche Leben ist, wenn man nur geduldig ist und genau genug hinschaut. Geduld und Genauigkeit: Das sind vielleicht schon die beiden wichtigsten Eigenschaften des neuen rumänischen Kinos, das seit gut zehn Jahren auf Festivals reüssiert und jetzt auch mit einer Reihe im Zürcher Kino Xenix gewürdigt wird. Mit «Sieranevada» und Cristian Mungius «Graduation» waren letztes Jahr neue Filme der beiden vielleicht prominentesten Vertreter dieser Strömung im Wettbewerb von Cannes vertreten. Nun starten beide Werke fast zeitgleich in den Schweizer Kinos.

Sozialer Minimalismus

Stellt man sie nebeneinander, erkennt man schnell, warum die Filme des neuen rumänischen Kinos mehr eint als nur ihr Produktionsland. Das betrifft schon die Figuren, die in ihnen auftauchen: Zweimal geht es um Familien der oberen Mittelschicht, die Männer sind Ärzte und haben Affären, die Frauen sind verbittert, tragen aber immerhin schicke Kostüme, die Kinder werden zum Ballettunterricht geschickt und sollen spätestens zum Studium ins Ausland; denn für ihr korruptes, dysfunktionales Heimatland hat die rumänische Bourgeoisie nur Verachtung übrig. In der Welt, in der diese Filme spielen, gibt es – dem relativen Wohlstand zum Trotz – nicht viel Spielraum, überall lauern familiäre Sorgen und Verpflichtungen, und selbst unter Fremden auf der Strasse ist die Stimmung offen feindselig.

Vor allem aber greifen beide Filme in ähnlicher Weise auf diese Welt zu. Die Kamera ist oft nah an den Figuren, ohne sich dabei unangemessen aufzudrängen. Sie tritt den Menschen nicht wie ein unsichtbarer Voyeur, sondern auf Augenhöhe entgegen. Das neue rumänische Kino ist minimalistisch, aber nicht im Sinne einer formalistischen Anstrengung, sondern weil es alle ästhetischen Mittel seinen Figuren und vor allem den sozialen Situationen, in denen es sie platziert, unterordnet.

Umso erstaunlicher, dass sich die Filme trotzdem komplett unterschiedlich anfühlen. Wo man sich in «Sieranevada» schon in der ersten Einstellung frei und neugierig umherbewegen kann, fühlt man sich in «Graduation» bevormundet, fast wie auf der Schulbank. Mungiu interessiert sich für soziale Situationen nur insoweit, wie sie sich in seine parabelhafte Erzählung fügen. Es geht um die achtzehnjährige Eliza, die kurz vor ihrem Schulabschluss Opfer einer Vergewaltigung wird; und um ihren Vater Romeo, der darauf besteht, dass sie ihr Leben dennoch normal weiterlebt, um ihre Schulnoten (und den Studienplatz in Britannien) nicht zu gefährden. Szene für Szene werden die Brüche in der heilen bürgerlichen Welt offensichtlicher. Das ist dann aber auch schon alles, was der Film von einem will: Wir dürfen mit ansehen, wie Romeo in alle Fallen tappt, die Mungiu fein säuberlich für ihn aufgestellt hat.

Durch die geöffnete Tür

Ganz anders «Sieranevada». Puius auf intime Art monumentaler Film verlagert sich nach der spektakulären ersten Einstellung bald in eine enge, düstere Wohnung, die er im Verlauf der drei Stunden Laufzeit kaum einmal verlässt. In den Zimmern sitzt, in wechselnden Konstellationen, die Verwandtschaft eines Verstorbenen zusammen. Puiu filmt das Familientreffen fast in Echtzeit und weitgehend ohne Montage, die Kamera vagabundiert ungezwungen, aber auch stets von einer gewissen Unruhe getrieben durch die Wohnung, gelegentlich bleibt sie draussen auf dem Flur und nimmt die Gespräche nur wie nebenbei, durch eine geöffnete Tür, mit. Schon nach kurzer Zeit fühlt man sich selbst in diesen Räumen zu Hause, wird nervös, wenn eine Figur länger nicht im Bild ist: Wollte die Frau des Arztes nicht nur kurz etwas aus dem Auto holen? Und wie geht es eigentlich der betrunkenen Kroatin, die die Tochter des Hauses mit in die Wohnung geschleppt hat?

Die Gespräche haben keinen Anfang und kein Ende, schon gar kein Resultat. Der Tote spielt in ihnen keine allzu zentrale Rolle, mindestens so wichtig ist das Essen, das gerade vorbereitet wird, der Klatsch über diverse schwarze Schafe der Familie oder auch Verschwörungstheorien zum 11. September 2001. Zudem geht es, wie in fast allen neueren rumänischen Filmen, um das Erbe der kommunistischen Vergangenheit, das nach wie vor herumspukt. Aber die grösseren und kleineren Krisen des Alltags wiegen im Zweifelsfall schwerer – selbst die strenge Tante, die noch immer an die Versprechungen des Realsozialismus glaubt, kommt erst dann richtig in Fahrt, als ihr eine tollpatschige Verwandte Suppe übers Kleid schüttet.

«Graduation» startet am 2. März 2017 in den Kinos, «Sieranevada» folgt am 9. März. Die Reihe «Rumänien Reloaded» mit dreizehn Spielfilmen läuft bis 29. März 2017 in Zürich im Kino Xenix, genaues Programm siehe www.xenix.ch.

Sieranevada. Regie: Cristi Puiu. Rumänien 2016

Graduation. Regie: Cristian Mungiu. Rumänien/Frankreich 2016