Literatur: Ein Kind auf der Flucht
«Er kam sich vor, als stünde er an der Kante eines gewaltigen Abgrunds – eines Abgrunds, in dem nur leere Verzweiflung auf ihn wartete.» Der elfjährige Salva ist endlich in einem äthiopischen Flüchtlingslager angelangt und hat die Strapazen der Flucht aus dem Süden des Sudan hinter sich gebracht. Doch umso mehr spürt der Protagonist im Buch «Der lange Weg zum Wasser» nun seine Verlassenheit.
Beim Angriff auf sein Dorf im Jahr 1985 musste er sich aus dem Schulunterricht direkt in die Büsche schlagen und wurde von seiner Familie getrennt. Ein Onkel, den er auf dem Weg zufälligerweise traf, wurde kurz vor der Ankunft in Äthiopien erschossen.
Es ist der Ratschlag dieses Onkels, an den sich Salva über die folgenden Jahre hält: Immer nur einen Schritt tun, dann den nächsten. So gelingt es ihm schliesslich, das Schlimmste zu überstehen.
Er muss bei der brutalen Räumung des Flüchtlingslagers in Äthiopien erneut fliehen, kommt in einem weiteren Lager in Kenia unter, lernt Englisch – und gehört über zehn Jahre später schliesslich zu den Auserwählten unter den allein geflüchteten Kindern, die als «lost boys» von einer US-amerikanischen Familie aufgenommen werden.
Durch die Augen des Kindes erscheinen die beschwerliche Reise und das Leben im Flüchtlingslager manchmal wie ein grosses Abenteuer. Häufig aber stehen der Hunger und die Angst im Vordergrund – und die Ablehnung, auf die Salva bei den anderen Flüchtenden stösst. Linda Sue Park hat ein Jugendbuch verfasst, in dem sie ungeschönt die Realität der Migration auspinselt, von der gegenwärtig so viele Menschen betroffen sind. Die Autorin zeigt die besondere Verletzlichkeit von Kindern auf der Flucht und stützt sich dabei auf die Lebensgeschichte Salva Duts, der ihr von seiner Flucht vor dem 22 Jahre dauernden zweiten sudanesischen Bürgerkrieg erzählt hatte.
Gegen Ende nimmt Salvas Geschichte eine versöhnliche Wende. Es gelingt ihm, den Abgrund der Verzweiflung hinter sich zu lassen und viele Jahre später dem sudanesischen Mädchen Nya, deren Geschichte im Buch parallel erzählt wird, das Notwendigste zu bringen: Wasser.
Linda Sue Park: Der lange Weg zum Wasser. Eine wahre Geschichte. Roman. Aus dem Amerikanischen von André Mumot. Bloomoon Verlag. München 2016. 128 Seiten. 15 Franken