Kriminalprävention: «Man überschätzt oft, was vorhersehbar war»

Nr. 11 –

Drohungen sind auf Schweizer Ämtern an der Tagesordnung. Inzwischen haben zehn Kantone ein behördenübergreifendes «Bedrohungsmanagement» geschaffen. In diesem Rahmen werden potenziell gefährliche Personen registriert und zu Gesprächen vorgeladen.

«Auslöser war für uns unter anderem der Doppelmord in Pfäffikon», sagt Reinhard Brunner von der Kantonspolizei Zürich. Im August 2011 erschoss dort ein Mann seine Ehefrau auf offener Strasse, nachdem sie ihn verlassen hatte. Nur wenige Minuten später tötete er die Leiterin des örtlichen Sozialamts, die im Vorfeld die Frau bei ihrer Trennung unterstützt hatte. Brunner, an jenem Tag Einsatzleiter, erinnert sich: «Noch während ich am Tatort stand, trafen Meldungen ein, dass der Täter bereits mehrfach wegen häuslicher Gewalt aufgefallen war.» Zu einem früheren Zeitpunkt hatte er etwa seine Frau mit einer Schere angegriffen und verletzt.

Hätte man die Tat verhindern können? «Das Problem war, dass damals die Informationen nicht an einer zentralen Stelle erfasst wurden», meint Brunner rückblickend. «Wäre dies geschehen, so hätte die Gefährlichkeit womöglich im Vorfeld erkannt werden können. Aber ein Restrisiko bleibt immer bestehen.»

Nach dem Tötungsdelikt in Pfäffikon sahen die Zürcher Behörden, die in den Fokus der Medien geraten waren, Handlungsbedarf. Um solche Ereignisse zukünftig besser zusammentragen zu können, wurde das Kantonale Bedrohungsmanagement (KBM) ins Leben gerufen.

Bedrohte SozialarbeiterInnen

Im Rahmen des KBM erfasst die Polizei potenziell gefährliche Personen präventiv in einer Datenbank. Neben dem Kanton Zürich gehört Solothurn zu den Vorreitern. Inzwischen haben acht weitere Kantone ein behördenübergreifendes Bedrohungsmanagement lanciert.

Neben häuslicher Gewalt steht auch Gewalt gegen Mitarbeitende von Ämtern im Fokus. Der Kanton Solothurn hat dazu 200 Personen, die in der Verwaltung arbeiten, befragt. 60 Prozent der befragten Personen gaben an, bereits einmal bedroht, 33 Prozent tätlich angegriffen worden zu sein. 22 Prozent hatten schon erlebt, wie ein Klient, eine Klientin mit einer Waffe auf dem Amt auftauchte. Weitaus am häufigsten kommen solche Vorfälle auf den Sozialämtern vor. Auch im Kanton Zürich sind die Sozialämter in vielen Fällen involviert, wie Reinhard Brunner von der Kapo Zürich bestätigt. Den Anwalt Peter Nideröst, der mit Sozialhilferecht vertraut ist, erstaunt das nicht. «Um so unattraktiv wie möglich zu sein, führen zahlreiche Gemeinden einen Kleinkrieg gegen Sozialhilfeempfänger. Die Wut entlädt sich dann auf den Ämtern.» Nideröst ist überzeugt: «Würden diese Menschen gesellschaftlich weniger ausgegrenzt, so würden sie auch weniger ausflippen.»

Im Rahmen des KBM wurden die MitarbeiterInnen der kantonalen Ämter und der Gemeinden für den Umgang mit bedrohlichem Verhalten geschult. «Wenn eine Person auf einem Amt eine Drohung äussert, gibt es zuerst eine amtsinterne Abklärung», erklärt Niklaus Büttiker von der Kantonspolizei Solothurn. «Eine speziell ausgebildete Ansprechperson geht der Drohung nach. Kommt sie zum Schluss, dass eine ernsthafte Gefahr besteht, so geht eine Meldung beim KBM ein.»

Drei Gefahrenstufen

Wird eine Person in der jeweiligen kantonalen Polizeidatenbank als beim KBM gemeldet registriert, erfolgt eine «Gefährderermahnung». Das heisst: Die besagte Person wird vorgeladen und zu ihren Drohungen befragt. Je nachdem, wie das Gespräch verläuft, folgt eine Einteilung in drei unterschiedliche Stufen. Bei Stufe eins spricht die Polizei von einer niederschwelligen Bedrohungslage. Die Betroffenen relativieren in diesen Fällen ihre Drohungen wieder oder nehmen sie sogar zurück. Bei Stufe zwei sieht die Lage ernster aus. «In diesen Fällen konnte die Gefährdungslage nicht entschärft werden. Die Personen halten an ihren Drohungen fest», erklärt Büttiker. Stufe drei ist die höchste Gefahrenstufe: «Das betrifft Personen, die eine hohe Gewaltbereitschaft zeigen und bereits eine gewalttätige Vorgeschichte haben.» 2015 waren im Kanton Zürich 432 Personen im KBM gemeldet, im Kanton Solothurn waren es 300.

Gelingt es den PolizistInnen nicht, die Situation zu entschärfen, also bei Fällen der Stufe zwei und drei, so gibt es unterschiedliche Massnahmen, wie mit einer potenziell gefährlichen Person weiter umgegangen wird. Eine fixe Anleitung gibt es gemäss Büttiker nicht. Die Polizei versucht bei solchen Fällen aber jeweils abzuklären, ob die Person Zugang zu Waffen hat, um diese allenfalls einzuziehen. Weitere mögliche Massnahmen reichen von regelmässigen Meldepflichten über Kontakt- und Rayonverbote bis hin zu Präventivhaft.

Wer wissen will, ob und in welcher Gefahrenstufe er beim KBM gemeldet ist, kann bei der Polizei Einsicht ins kantonale Polizeiregister verlangen. Die Kantonspolizei Solothurn behält sich jedoch vor, einer Person die Informationen zu verweigern. «Wenn wir das Gefühl haben, dass eine Akteneinsicht weiter eskalierend wirkt, teilen wir einer Person nicht mit, dass sie beim KBM gemeldet ist», sagt Büttiker.

Das Kantonale Bedrohungsmanagement ist Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der Polizeiarbeit. «Auf der Polizeischule hat man uns früher gelehrt, dass die Polizei handelt, wenn etwas strafrechtlich Relevantes vorliegt. Heute hat sich die Polizeiarbeit auch auf die Verhinderung von Straftaten erweitert. Das Polizeigesetz wurde entsprechend angepasst», sagt Reinhard Brunner. «Früher wurde unsere Arbeit bei schweren Delikten noch weniger hinterfragt. Heutzutage liegt der Fokus schnell auf der Frage, wie die Behörden das Delikt hätten verhindern können.» Dennoch findet Brunner diese gesteigerte Anspruchshaltung legitim: «Die Polizei hat den gesetzlichen Auftrag, Massnahmen zur Verhinderung von Straftaten zu ergreifen. Die Bevölkerung erwartet zu Recht, dass die Polizei nicht nur in Notsituationen hilft, sondern alles unternimmt, um sie auch vor Gefahren zu schützen.»

Erst schiessen, dann prüfen?

Doch lassen sich schwere Gewalttaten wirklich präventiv unterbinden? Viktor Györffy, Anwalt und Präsident von Grundrechte.ch, ist grundsätzlich skeptisch gegenüber Gefährlichkeitseinschätzungen. Er warnt vor dem «hindsight bias» (Rückschaufehler): «Nach schweren Gewalttaten wird häufig nach Anzeichen gesucht, die hätten erkennbar sein können. Rückblickend überschätzt man jedoch oft, was wirklich vorhersehbar war.» Es gebe beispielsweise viele Menschen, die ähnliche Verhaltensmuster wie Amokläufer aufwiesen. Doch die potenziell gefährlichen von den wirklich gefährlichen Leuten zu trennen, sei schwierig, findet Györffy.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Registrierung. Auch wenn die Behörden die Gefährlichkeit einer Person als niedrig einstufen, bleibt sie im Kanton Zürich zehn Jahre registriert. PolizistInnen im Einsatz sehen bei einer Personenkontrolle, dass eine Person beim KBM gemeldet ist, jedoch nicht, in welche Gefährlichkeitsstufe sie eingeteilt ist. Diese Einsicht haben nur hohe Polizeikader. Györffy befürchtet, dass eine gemeldete Person bei einer Kontrolle von der Polizei anders als üblich behandelt wird: «Im schlimmsten Fall werden vorschnell polizeiliche Gewaltmittel eingesetzt, bis hin zum Gebrauch der Schusswaffe.»

Dass es eine zentralisierte Stelle für Gewaltschutz gibt, findet er nicht grundsätzlich falsch: «In konkreten Fällen können die Gespräche der Polizei sicherlich entschärfend wirken.» Dass die Polizei jedoch ohne konkrete Straftat Personen registriert, findet er problematisch: «Die Vorstellung, man könne Straftaten im Voraus erkennen, folgt einer orwellschen Logik.»