Was ist ein «Gefährder»?: Wenn die Polizei hellsehen kann

Nr. 48 –

Das Parlament berät in der aktuellen Session die Antiterrorstrategie des Bundesrats. Dabei geht es unter anderem um sogenannte GefährderInnen. Über die internationale Karriere eines umstrittenen Konzepts.

Einmal im Fokus, immer im Fokus: Das «Gefährder»-Etikett wird man so schnell nicht mehr los. Foto: Alexander Spatari, Getty; Bearbeitung: WOZ

Passentzug und Rayonverbot, polizeiliche Meldepflicht und Zwang zum Gespräch mit einer «Fachperson», Kontaktsperre und Handyüberwachung – und das alles schon für Kinder ab zwölf Jahren: Die Massnahmen, die der Bundesrat für den Umgang mit sogenannten terroristischen GefährderInnen vorschlägt und die der Ständerat am 9. Dezember berät, haben es in sich.

Die meisten davon sollen in Zukunft vom Bundesamt für Polizei (Fedpol) in Absprache mit den Kantonen und dem Geheimdienst verfügt werden können. Einen Gerichtsentscheid braucht es lediglich für das härteste der geplanten Mittel: die «Eingrenzung auf eine Liegenschaft», also Hausarrest. Hier liegt das Mindestalter bei fünfzehn Jahren.

So weitreichend und einschneidend die vorgesehenen Massnahmen sind, so unklar sind ihre AdressatInnen benannt. Im «Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus» (PMT) findet sich zwar erstmals eine Art Definition des Gefährderbegriffs: Demnach gilt jemand als «terroristischer Gefährder», «wenn aufgrund konkreter und aktueller Anhaltspunkte davon ausgegangen werden muss, dass sie oder er eine terroristische Aktivität ausüben wird.» Aber was bedeutet der Begriff genau? Und woher kommt das Konzept, das immer mehr in der öffentlichen Debatte auftaucht und vor allem im Zusammenhang mit islamistischem Terror gerne verwendet wird?

Um die zugrunde liegende Entwicklung nachzuzeichnen, hilft ein Blick über die Landesgrenze: nach Deutschland, von wo das Konzept in seiner jetzigen Form in die Schweiz herüberschwappte.

Eine neue Kategorie

In den letzten Jahrzehnten hat die Rechtspraxis in Europa einen Wandel durchgemacht. Wo früher lediglich zwischen Beschuldigten und Unverdächtigen unterschieden wurde, kam im Lauf der Zeit eine weitere Kategorie hinzu: eben die «GefährderInnen».

Richtig Fahrt aufgenommen hat die Karriere des Begriffs nach den Anschlägen des 11. September 2001, wie der deutsche Rechtswissenschaftler Felix Hanschmann in einem Fachessay aufgezeigt hat. Damals riefen die USA und mit ihnen viele europäische Länder den «Krieg gegen den Terror» aus. Im Zuge dessen waren die Behörden bereit, für vermeintliche Sicherheit die individuelle Freiheit einzuschränken. Damals entstand auf Kuba auch das Gefangenenlager Guantánamo, in dem Personen auch ohne Gerichtsurteil teilweise jahrelang inhaftiert werden.

Statt konkreter Taten rückten also zunehmend jene Personen ins Visier, die inskünftig zu TäterInnen werden könnten. Lediglich begangene Taten zu bestrafen, reiche angesichts der islamistischen Bedrohung nicht mehr aus, argumentierten die Behörden. Stattdessen wollten sie Taten verhindern, bevor sie überhaupt begangen würden. Der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick gab der zugrunde liegenden Dystopie den Namen «Precrime». In Steven Spielbergs Film «Minority Report» aus dem Jahr 2002, der auf einer von Dicks Geschichten basiert, war dies der Name einer Behörde, deren Aufgabe es war, Personen festzunehmen, die in der Zukunft Straftaten begehen würden. Auf dieser Logik basiert auch der Gefährderbegriff.

Eine juristische Definition fehlt in Deutschland bis heute. Benutzt wurde der Begriff dennoch – seine Bedeutung legte 2004 ein Polizeigremium fest: die sogenannte AG Kripo. Die Definition, die mit dem Antiterrorgesetz PMT ins Schweizer Recht aufgenommen werden soll, ist praktisch wortgleich, lediglich das Attribut «politisch motiviert» wurde in der Schweizer Version durch «terroristisch» ersetzt. Dass sie sich nicht nur auf islamistische «GefährderInnen» bezieht, sondern auch links- oder rechtsextreme Personen in den Fokus geraten können, machte Justizministerin Karin Keller-Sutter sofort klar, als sie im Mai die Botschaft des Bundesrats präsentierte.

Für diese polizeiliche Entwicklung steht ein Mann exemplarisch: der CDU-Hardliner und ehemalige deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble, der den «Gefährder»-Begriff 2007 öffentlich ins Spiel brachte. «Man müsste überlegen, ob es nicht Möglichkeiten gibt, gegen Menschen vorzugehen, die zwar strafrechtlich noch keinen Straftatbestand verwirklicht haben, bei denen man aber konkrete Anhaltspunkte hat, dass sie Dinge vorbereiten. Dass man solchen Menschen bestimmte Auflagen macht, die sie im Gebrauch ihrer bürgerlichen Grundfreiheiten einschränken», sagte er damals in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag».

In der Schweiz wurde der Begriff im gleichen Jahr im Kontext der Gesetzesbotschaft zur «inneren Sicherheit» (BWIS II) verwendet, die vom Parlament dann aber an den Bundesrat zurückgewiesen und dann verworfen wurde. Nun soll er mit dem PMT doch noch eingeführt werden.

Ob jemand als «GefährderIn» eingestuft wird, entscheidet sich allein aufgrund einer polizeilich-geheimdienstlichen Prognose. Menschenrechtsorganisationen warnen, dass damit die Unschuldsvermutung ausgehebelt werde, weil die betroffene Person in Umkehrung der Beweislast erst nachweisen muss, dass sie keine Straftat begehen wird. Ein solcher Nachweis ist aber gar nicht möglich – es sei denn, man besitzt hellseherische Fähigkeiten.

Nur der vorläufige Höhepunkt

Einige der nun geplanten Massnahmen werden indes schon längst angewandt: Im Kontext der sogenannten Gefährderansprachen erhielten «verdächtige» Personen wie beispielsweise Fussballfans demnach Besuche von der Polizei und erfuhren dabei, dass sie unter Beobachtung stehen.

Im Unterschied zum Umgang mit «GefährderInnen» bezogen sich die Ansprachen allerdings meist auf ein konkretes Ereignis oder eine Person, von dem oder der jemand ferngehalten werden soll. Dass die Präventivmassnahmen auch auf Geflüchtete angewendet werden, zeigte indes kürzlich der Fall eines jungen Kurden in St. Gallen. Weil er eine «Gefahr für die öffentliche Sicherheit» sei, darf er seit Monaten den Kanton nicht verlassen.

In den letzten zehn Jahren kam ein weiteres Instrument hinzu: das «kantonale Bedrohungsmanagement». Eingeläutet wurde der Paradigmenwechsel durch einen Mord.

2011 erschoss in Pfäffikon ZH ein Mann seine Frau und die Leiterin des Sozialamts. Zuvor war er mit einem Kontaktverbot belegt worden. Daraufhin führten erst der Kanton Solothurn und später der Kanton Zürich Systeme ein, bei denen das «Erkennen, Einschätzen und Entschärfen» von Gefahren im Zentrum stand. Verschiedene Institutionen sollten «gefährliche» Personen beobachten und ihr Wissen über sie miteinander teilen.

Reinhard Brunner, der Chef der Präventionsabteilung bei der Zürcher Kantonspolizei, sprach 2016 von «vorausschauender Polizeiarbeit». Inzwischen findet die Massnahme in mehr als einem Dutzend Kantonen Anwendung. Teil davon ist auch eine Datenbank, die gemäss dem Verein humanrights.ch auch für «terroristische Gefährder» genutzt werden soll.

Im Zuge dieser Entwicklung bildet das PMT nur den vorläufigen Höhepunkt. Das zeigt sich an einer weiteren Massnahme: der ursprünglich vorgesehenen Präventivhaft. Zwar wurde sie wieder aus der Gesetzesbotschaft gestrichen, nachdem ein vom Bund beauftragtes Gutachten darin einen Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention erkannt hatte. In der Form von Ausschaffungshaft soll sie für ausländische «GefährderInnen» aber dennoch gelten.

Auch in diesem Kontext lohnt sich übrigens ein Blick nach Deutschland: 2018 trat in Bayern ein neues Polizeigesetz in Kraft, das unbefristete Präventivhaft für «GefährderInnen» erlaubt. Auch in anderen Bundesländern sind ähnliche Regelungen eingeführt oder in Planung.