Türkei: Erdogans heuchlerisches Gerede
Mit dem Streit um die Wahlkampfauftritte haben die Beziehungen zwischen der EU und Ankara einen weiteren Tiefpunkt erreicht. Im Land selbst fallen die Reaktionen unterschiedlich aus.
Es ist nicht lange her, da orientierte sich der aussenpolitische Kurs der türkischen Regierungspartei AKP noch am Motto «Keine Probleme mit den Nachbarn». Spätestens seit der Eskalation der vergangenen Tage ist das vorbei: Ankara droht mit Sanktionen gegen die Niederlande – einen Mitgliedstaat der EU, des einflussreichsten Nachbarn und wichtigsten Handelspartners der Türkei.
Aussenpolitisch wird die Reaktion auf die Wahlkampfabsagen in Europa wohl Konsequenzen haben: Die Beziehungen zwischen der EU und Ankara haben mit dem Streit einen weiteren Tiefpunkt erreicht. Der Hintergrund liegt jedoch eher in der Innenpolitik: Am 16. April wird über eine Verfassungsänderung abgestimmt, die mit der Einrichtung eines Präsidialsystems wesentlich mehr Macht in Recep Tayyip Erdogans Hände legen würde.
Begeistert von Erdogans Taktik
Erdogan und seine AKP hoffen – unterstützt von einem Teil der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP – auf ein lautstarkes Ja zu den geplanten Änderungen. Umfragen zeigen jedoch, dass das Nein-Lager knapp vorne liegt. Es zählt also jede Stimme, inklusive derjenigen der rund drei Millionen wahlberechtigten TürkInnen in der EU, weswegen türkische MinisterInnen auch dort Wahlkampf machen sollten. Die Absagen sind dabei kein Rückschlag für Erdogan: In der Türkei brodelt eine antieuropäische Stimmung. Die Sichtweise, wonach Europa versuche, die Türkei zu schwächen, ist weit verbreitet. Erdogan habe die Chance gesehen, konservativ-nationalistische WählerInnen gegen einen gemeinsamen Feind zu mobilisieren, sagt der Türkeianalyst Sinan Ülgen: «Erdogan glaubt, dass der Streit ihm helfen wird, die Unterstützung für das Referendum zu konsolidieren.»
Seine AnhängerInnen scheinen in der Tat begeistert vom Ergebnis dieser Taktik. Vor dem niederländischen Konsulat in Istanbul versammelte sich eine wütende Menge; in der westtürkischen Stadt Izmit pressten Mitglieder der AKP-Jugendorganisation vor laufender Kamera Orangen aus und schlürften – «Faschistisches Holland!» rufend – den Saft. Auch die regierungsfreundlichen Zeitungen lobten den Präsidenten. Selbst Teile der Opposition stellten sich hinter die Regierung. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der grössten Oppositionspartei CHP, forderte gar, die diplomatischen Beziehungen mit den Niederlanden zu suspendieren.
Doch für viele RegierungskritikerInnen klingen Erdogans Vorwürfe lächerlich. Während der Präsident auf Meinungsfreiheit für seine MinisterInnen in Europa pocht, sitzen mehr als 150 JournalistInnen im Gefängnis, darunter der deutsch-türkische «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel. Oft werden KritikerInnen unter dem Vorwurf der «Terrorpropaganda» weggesperrt – wie Yücel oder auch einige Abgeordnete der prokurdischen Oppositionspartei HDP. Die Parteivorsitzende Figen Yüksekdag wurde kürzlich zu einer zehnmonatigen Haftstrafe verurteilt, ihr wurde der Parlamentssitz entzogen. «Die politischen Machthaber versuchen, Europa über Meinungsfreiheit zu belehren, aber sie sperren uns ein», spottete Yüksekdag bei einem Gerichtstermin am Montag.
Wer den Staat kritisiert, muss mit Haft oder Jobverlust rechnen. So erging es auch den rund tausend AkademikerInnen, die sich letztes Jahr gegen die Brutalität eines Militäreinsatzes im kurdischen Südosten ausgesprochen hatten: Gegen sie alle läuft ein Verfahren, viele wurden von ihren Universitäten gefeuert, einige sind ins Ausland geflohen.
Nervöse WählerInnen
Auch Ismet Akca verlor im Februar seinen Job als Professor für Politik und Internationale Beziehungen an Istanbuls Yildiz-Universität. Die Suspendierung wurde per Dekret angeordnet. «Jetzt kann ich nirgends in der Türkei lehren. Wir haben kein Recht, Berufung einzulegen, solange der Notstand gilt», sagt er.
Für Akca und seine KollegInnen ist Erdogans Rhetorik schwer zu ertragen. Die Kritik an den Niederlanden sei heuchlerisches Gerede: «Es ist offensichtlich, dass die Türkei selbst von einem antidemokratischen Regime gesteuert wird.»
In den Strassen Ankaras und Istanbuls gäbe es schliesslich kaum noch Versammlungsfreiheit, fügt Akca hinzu. Das gilt nicht nur für Demonstrationen gegen die Regierung – die schon seit Jahren von Tränengas und Wasserwerfern aufgelöst werden –, sondern auch für Wahlkampfauftritte der Opposition. Parteien, die für ein Nein im Referendum werben, haben oft Schwierigkeiten, Veranstaltungsorte zu finden. Im Istanbuler Stadtteil Kadiköy attackierten Polizisten kürzlich eine Versammlung von GegnerInnen der Verfassungsänderung.
Trotzdem stehen die Chancen für ein Nein laut Umfragen noch immer gut. Ob Erdogans Rhetorik das ändert, ist ungewiss: Akca glaubt, der Streit mit Europa könne einige nationalistische WählerInnen mobilisieren, doch viele TürkInnen beobachteten die Eskalation mit Nervosität. «Türkische Wähler, vor allem die Unterstützer der AKP, wollen Stabilität», sagt er. «Aber diese Art von Streiterei ist eine Quelle politischer Instabilität.»
EU-Türkei: Fahnen schwingen vor dem türkischen Konsulat
Soll man einem Minister, dessen Regierung gerade die Demokratie abschafft, eine Bühne bieten, um für diese Abschaffung zu werben? Gilt Meinungsfreiheit auch für AntidemokratInnen? Über diese Fragen ist zuletzt heftig gestritten worden. Während Bern sich betont neutral gab und Berlin es auf die Kommunalpolitik abschob, Verbote zu erteilen, demonstrierten die Niederlande aus knallhartem innenpolitischem Kalkül Härte und entzogen einem türkischen Ministerjet die Landeerlaubnis.
So zuwider einem Recep Tayyip Erdogans repressive Politik auch sein mag: Sehenden Auges tappen die europäischen Regierungen damit in die Falle des türkischen Machthabers, der nur auf die Verbotspolitik gewartet hat, um einen äusseren Feind beschwören zu können. Und stürzen damit nicht zuletzt auch die türkische Opposition mehrheitlich ins Dilemma: Sie sind die Leidtragenden des türkischen Regimes – und weil sie als DemokratInnen die europäische Verbotspolitik ablehnen, finden sie sich plötzlich auf Erdogans Seite wieder.
Die Konstruktion des zurückgebliebenen Osmanen, der über die Demokratie aufgeklärt werden muss, hat auch in den europäischen Staaten einen innenpolitischen Zweck. In den Niederlanden diente das Auftrittsverbot dazu, den RechtspopulistInnen den Wind aus den Segeln zu nehmen – mit dem Effekt, dass deren Islamophobie erst recht legitimiert wird. Auch in Deutschland wurde auf dem Rücken der Menschen, deren Familien als sogenannte Gastarbeiter ins Land kamen, schon immer gern Wahlkampf betrieben. Mal möchte man, dass sie sich durch die Wahl des Passes Deutschland gegenüber als loyal erweisen. Dann wieder zeigt sich die Haltung in den Ermittlungen zur Terrorserie des NSU, bei der man jahrelang ein türkischstämmiges Milieu verdächtigte. Die jetzige Verbotspolitik spaltet die Gesellschaft weiter: ihr, denen man die Demokratie erst erklären muss; wir, die die Fahne der Freiheit hochhalten.
Am besten hört man sowieso auf oppositionelle türkische Stimmen, auf Can Dündar etwa. «Verbote und Empörung sind ein Heimspiel für Erdogan. Demokratie und Dialog sind für ihn ein Auswärtsspiel. Um dieses Spiel zu gewinnen, müssen wir ihn auf unseren Platz holen, statt auf seinem mitzuspielen», schreibt der Journalist, der wegen seiner Recherchen in der Türkei inhaftiert war und im Exil in Deutschland lebt. Oder auf den Staatsrechtler und HDP-Abgeordneten Mithat Sancar, gegen den in der Türkei gerade mehrere Verfahren laufen. Er sagt: «Die Methoden der Nichtdemokraten dürfen die Demokratien nicht so einfach verwenden.»
Statt Auftritte türkischer MinisterInnen verbieten zu wollen, demonstriert man also besser zusammen mit den Türkinnen und Kurden, von denen übrigens ein grosser Teil Erdogans Politik ablehnt, vor türkischen Konsulaten. Oder man fährt aus Solidarität mit inhaftierten JournalistInnen hupend durch europäische Städte.
Anna Jikhareva